Fr, 11:50 Uhr
23.09.2016
Ideologie, Herrschaft, Legitimation
Entschwörungstheorie
Vom Mord an John F. Kennedy, die wirklich wahre Wahrheit über den 11. September bishin zu Chemtrails und Reptiloiden Weltherrschern - Verschwörungstheorien gibt es in verschiedensten Ausprägungen. Im Green Island sezierte man gestern Abend die gesellschaftliche Dimension des Phänomens...
Kennedy wurde von der CIA umgebracht, oder dem FBI, oder dem KGB oder von einem dutzend anderen Verdächtigen. Der 11. September war eine geplante Aktion der amerikanischen Geheimdienste, Linienflugzeuge versprühen Gift um die Bevölkerung zu kontrollieren, Flüchtlingsströme werden kontrolliert als Waffe eingesetzt, die Mondlandung hat nie stattgefunden, der Tsunami von 2004 wurde durch unterirdische gezündete Atombomben ausgelöst, eigentlich werden wir insgeheim von Echsenwesen oder Aliens beherrscht und, und, und.
Theorien warum die Welt so ist, wie sie ist und warum bestimmte Ereignisse geschehen, gibt es viele. Schuld an der Misere sind, je nach Interessenlage, Illuminaten, Freimaurer, Bilderberger, das Großkapital, Sozialisten, das Weltjudentum oder andere sinistre Geheimbünde und Zirkel, die irgendwie unfassbar im verborgenen agieren und die Welt lenken.
Manche Ideen und Erklärungen sind abstruser als andere und es ist leicht, sich darüber lustig zu machen, sie als Spinnerei abzutun. Vergessen Sie nicht ihren Aluhut. Daniel Kulla will es sich so leicht nicht machen. Erste Berührungspunkte mit der Thematik kennt er noch aus den 90er Jahren, bevor die Welt nur ein paar Klicks entfernt war und man von Freunden selbst ausgedruckte Bücher zugesteckt bekam. Damals war es das alles nur jugendliche Neugier, erzählte Kulla gestern Abend im "Green Island" in Nordhausen. Organisiert wurde der Vortrag von der Nordhäuser Linksjugend. Zu Daniel Kulla passt das gut, er betrachtet sich selbst als Kommunist, hat sein Leben in Linken Kreisen und in der Hausbesetzer Szene verbracht.
Wer am Zustand der Welt schuld ist, dazu gibt es naturgemäß auch links von der Mitte mehr als genug Annahmen. Erst als nach dem 11. September Verschwörungstheorien aus dem Boden schossen, fing Kulla an, sich akademisch mit dem Phänomen Verschwörungstheorie auseinander zu setzen, aus Selbstschutz, wie er sagt. "Alle haben angefangen über die Schmelztemperatur von Stahl zu diskutieren", erzählt Buchautor Kulla, aber niemand habe sich die grundlegende Erzählung angesehen.
Er selbst betrachtet denn auch nicht einzelne Theorien, sondern sucht nach Gemeinsamkeiten, nach der Funktion die Verschwörungserzählungen für ihre Anhänger haben. Kulla nähert sich der Problematik dabei über gängige Definitionen von Herrschaft und Ideologie. Frei nach Marx: Ideologie ist "notwendig falsches Bewusstsein" - mein System, die Herrschaftsform unter der ich lebe, ist die beste und einzig wahrhaftig Gute. Demokratie, Sozialismus, Monarchie - die Begrifflichkeiten sind auswechselbar, jede Form von Herrschaft dichtet ihre eigene Erzählung, um Legitimation zu erlangen und zu festigen. Der Kommunismus ist die unausweichliche Entwicklung die die Welt nehmen muss, die feudalen Stände sind Gott gegeben, die unsichtbare Hand des Marktes reguliert sich selbst, etc.
Wenn mal etwas nicht so läuft, wie es die Erzählung vorsieht, dann sind die "Anderen" schuld, die Juden, die Hochfinanz, faule Ausländer, vom Gegner gesteuerte subversive Kräfte. Für Kulla bewegen sich diese Erzählungen noch im Rahmen des "Alltagsnationalismus", das allgemeine Schubladendenken, das man überall auf der Welt fände. "Wir" gegen "Die" sind letztlich typische Identifikationsprozesse, die sowohl in Kleinstgruppen wie auch auf nationaler Ebene stattfinden. Unsere Straße/Schule/Stadt/Region/Land ist besser, wir sind besser, schlauer, mutiger, fleißiger, ehrlicher, stärker als die "Anderen".
Tatsächliche Verschwörungstheorien, "radikalere Erzählungen", wie Kulla sie nennt, würden dann Fuß fassen, wenn die eigenen Situation innerhalb dieser Erzählung nicht mehr haltbar ist. Der eigene Bezugspunkt ist ideologisch notwendigerweise richtig, also muss es jemand anderen geben, der das Dilemma zu verantworten hat. Nicht ich bin Schuld an meiner Situation, die Verantwortung tragen andere. Das eigene Handeln, wie auch die Argumente der Gegenseite, müssen dann nicht weiter hinterfragt werden.
Praktisch beobachten kann man das zur Zeit auf diversen Bühnen landauf, landab etwa wenn Rechtsextreme Gruppierungen von "Migrationswaffen" schwadronieren und Gegendemonstranten als bezahlte Claqueure hingestellt werden. Der vermeintliche Angriff kommt von außen, nur wir sind echt, wahrhaftig und ehrlich, die Anderen hingegen sind irrelevant, unecht, weil von den Verschwörern gesteuert.
Neu ist das Phänomen beileibe nicht. Die an tatsächlichen und vermeintlichen Verschwörungen nicht arme französische Revolution wird etwa nach dem Ende der Napoelonischen Kriege vom wiedererstarkten Adel als von Geheimbünden organisierter Umsturz umgedeutet. Schließlich kann der Fehler nicht in der absoluten Monarchie gelegen haben. Die vermeintliche "jüdische Weltverschwörung" macht später Karriere, nicht zuletzt im Dritten Reich, und hat bis heute ihre Anhänger. In Ungarn gebe es bis heute die Erzählung, dass es die Juden gewesen sein, die dem Land "die Roma in den Pelz gesetzt hätten", führt Kulla aus und auch vom 11. Septmeber hätten "die Juden" vorher gewusst, so eine gängige Annahme.
In der Sowjetunion der 1930er Jahre jagten die Geheimdienste Gegner, die es so nicht gab, die man aber sehen wollte. Ähnliche Vorgänge konnte man in den USA während der McCarthy Ära beobachten. Die von staatlicher Seite propagierte Verschwörung dient denn auch als Mittel zur Stabilisation und in der Folge nicht selten als Vorwand um gegen vermeintliche Gegner vorzugehen und gegenüber den eigenen Anhängern Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Aktuell ließe sich in dieser Hinsicht zum Beispiel in Richtung Türkei blicken.
Was letztlich wahr und was unwahr ist, darüber fällt Kulla kein Urteil, schließlich kennt die Geschichte genug Beispiele für, häufig Misslungene weil aufgeflogene, Verschwörungen. Die Loge P2 in Italien etwa, die in den 70er Jahren an einem faschistischen Umsturz gearbeitet hat und auch vor Auftragsmorden nicht zurückschreckte, die Tonkin-Lüge, die den Vietnamkrieg eskalieren ließ oder jüngst die Enthüllungen Edward Snowdens über den globalen Überwachungsappart.
Die neutrale und Ergebnissoffene Auseinandersetzung mit möglichen Verschwörungen sei selten, sagt Kulla, exisitiere aber, vor allem in den USA. Aber auch hier sei die Betrachtungsweise mit ideologischen Scheuklappen wesentlich häufiger. Wo also anfangen mit der "Entschwörung"? Bei sich selbst, meint Kulla. Man müsse das Thema als Form der Ideologie ernst nehmen und reflexhafte Reaktionen vermeiden, müsse Fragen stellen. Wie sieht die grundsätzliche Erzählung aus? Wer verbreitet sie? Wie sieht die Lebenssituation derjenigen aus, die der jeweiligen Theorie anhängen?
"Die Gesellschaftsordnung lebt vom mitmachen der Menschen", sagt Kulla, ihre Probleme und Zwänge werden durch das eigene, meist erlernte handeln reproduziert. Es braucht nicht ein dutzend geheimer Weltenlenker, es reicht das die breite Masse das Spiel mitspielt.
Angelo Glashagel
Autor: redKennedy wurde von der CIA umgebracht, oder dem FBI, oder dem KGB oder von einem dutzend anderen Verdächtigen. Der 11. September war eine geplante Aktion der amerikanischen Geheimdienste, Linienflugzeuge versprühen Gift um die Bevölkerung zu kontrollieren, Flüchtlingsströme werden kontrolliert als Waffe eingesetzt, die Mondlandung hat nie stattgefunden, der Tsunami von 2004 wurde durch unterirdische gezündete Atombomben ausgelöst, eigentlich werden wir insgeheim von Echsenwesen oder Aliens beherrscht und, und, und.
Theorien warum die Welt so ist, wie sie ist und warum bestimmte Ereignisse geschehen, gibt es viele. Schuld an der Misere sind, je nach Interessenlage, Illuminaten, Freimaurer, Bilderberger, das Großkapital, Sozialisten, das Weltjudentum oder andere sinistre Geheimbünde und Zirkel, die irgendwie unfassbar im verborgenen agieren und die Welt lenken.
Manche Ideen und Erklärungen sind abstruser als andere und es ist leicht, sich darüber lustig zu machen, sie als Spinnerei abzutun. Vergessen Sie nicht ihren Aluhut. Daniel Kulla will es sich so leicht nicht machen. Erste Berührungspunkte mit der Thematik kennt er noch aus den 90er Jahren, bevor die Welt nur ein paar Klicks entfernt war und man von Freunden selbst ausgedruckte Bücher zugesteckt bekam. Damals war es das alles nur jugendliche Neugier, erzählte Kulla gestern Abend im "Green Island" in Nordhausen. Organisiert wurde der Vortrag von der Nordhäuser Linksjugend. Zu Daniel Kulla passt das gut, er betrachtet sich selbst als Kommunist, hat sein Leben in Linken Kreisen und in der Hausbesetzer Szene verbracht.
Wer am Zustand der Welt schuld ist, dazu gibt es naturgemäß auch links von der Mitte mehr als genug Annahmen. Erst als nach dem 11. September Verschwörungstheorien aus dem Boden schossen, fing Kulla an, sich akademisch mit dem Phänomen Verschwörungstheorie auseinander zu setzen, aus Selbstschutz, wie er sagt. "Alle haben angefangen über die Schmelztemperatur von Stahl zu diskutieren", erzählt Buchautor Kulla, aber niemand habe sich die grundlegende Erzählung angesehen.
Er selbst betrachtet denn auch nicht einzelne Theorien, sondern sucht nach Gemeinsamkeiten, nach der Funktion die Verschwörungserzählungen für ihre Anhänger haben. Kulla nähert sich der Problematik dabei über gängige Definitionen von Herrschaft und Ideologie. Frei nach Marx: Ideologie ist "notwendig falsches Bewusstsein" - mein System, die Herrschaftsform unter der ich lebe, ist die beste und einzig wahrhaftig Gute. Demokratie, Sozialismus, Monarchie - die Begrifflichkeiten sind auswechselbar, jede Form von Herrschaft dichtet ihre eigene Erzählung, um Legitimation zu erlangen und zu festigen. Der Kommunismus ist die unausweichliche Entwicklung die die Welt nehmen muss, die feudalen Stände sind Gott gegeben, die unsichtbare Hand des Marktes reguliert sich selbst, etc.
Wenn mal etwas nicht so läuft, wie es die Erzählung vorsieht, dann sind die "Anderen" schuld, die Juden, die Hochfinanz, faule Ausländer, vom Gegner gesteuerte subversive Kräfte. Für Kulla bewegen sich diese Erzählungen noch im Rahmen des "Alltagsnationalismus", das allgemeine Schubladendenken, das man überall auf der Welt fände. "Wir" gegen "Die" sind letztlich typische Identifikationsprozesse, die sowohl in Kleinstgruppen wie auch auf nationaler Ebene stattfinden. Unsere Straße/Schule/Stadt/Region/Land ist besser, wir sind besser, schlauer, mutiger, fleißiger, ehrlicher, stärker als die "Anderen".
Tatsächliche Verschwörungstheorien, "radikalere Erzählungen", wie Kulla sie nennt, würden dann Fuß fassen, wenn die eigenen Situation innerhalb dieser Erzählung nicht mehr haltbar ist. Der eigene Bezugspunkt ist ideologisch notwendigerweise richtig, also muss es jemand anderen geben, der das Dilemma zu verantworten hat. Nicht ich bin Schuld an meiner Situation, die Verantwortung tragen andere. Das eigene Handeln, wie auch die Argumente der Gegenseite, müssen dann nicht weiter hinterfragt werden.
Praktisch beobachten kann man das zur Zeit auf diversen Bühnen landauf, landab etwa wenn Rechtsextreme Gruppierungen von "Migrationswaffen" schwadronieren und Gegendemonstranten als bezahlte Claqueure hingestellt werden. Der vermeintliche Angriff kommt von außen, nur wir sind echt, wahrhaftig und ehrlich, die Anderen hingegen sind irrelevant, unecht, weil von den Verschwörern gesteuert.
Neu ist das Phänomen beileibe nicht. Die an tatsächlichen und vermeintlichen Verschwörungen nicht arme französische Revolution wird etwa nach dem Ende der Napoelonischen Kriege vom wiedererstarkten Adel als von Geheimbünden organisierter Umsturz umgedeutet. Schließlich kann der Fehler nicht in der absoluten Monarchie gelegen haben. Die vermeintliche "jüdische Weltverschwörung" macht später Karriere, nicht zuletzt im Dritten Reich, und hat bis heute ihre Anhänger. In Ungarn gebe es bis heute die Erzählung, dass es die Juden gewesen sein, die dem Land "die Roma in den Pelz gesetzt hätten", führt Kulla aus und auch vom 11. Septmeber hätten "die Juden" vorher gewusst, so eine gängige Annahme.
In der Sowjetunion der 1930er Jahre jagten die Geheimdienste Gegner, die es so nicht gab, die man aber sehen wollte. Ähnliche Vorgänge konnte man in den USA während der McCarthy Ära beobachten. Die von staatlicher Seite propagierte Verschwörung dient denn auch als Mittel zur Stabilisation und in der Folge nicht selten als Vorwand um gegen vermeintliche Gegner vorzugehen und gegenüber den eigenen Anhängern Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Aktuell ließe sich in dieser Hinsicht zum Beispiel in Richtung Türkei blicken.
Was letztlich wahr und was unwahr ist, darüber fällt Kulla kein Urteil, schließlich kennt die Geschichte genug Beispiele für, häufig Misslungene weil aufgeflogene, Verschwörungen. Die Loge P2 in Italien etwa, die in den 70er Jahren an einem faschistischen Umsturz gearbeitet hat und auch vor Auftragsmorden nicht zurückschreckte, die Tonkin-Lüge, die den Vietnamkrieg eskalieren ließ oder jüngst die Enthüllungen Edward Snowdens über den globalen Überwachungsappart.
Die neutrale und Ergebnissoffene Auseinandersetzung mit möglichen Verschwörungen sei selten, sagt Kulla, exisitiere aber, vor allem in den USA. Aber auch hier sei die Betrachtungsweise mit ideologischen Scheuklappen wesentlich häufiger. Wo also anfangen mit der "Entschwörung"? Bei sich selbst, meint Kulla. Man müsse das Thema als Form der Ideologie ernst nehmen und reflexhafte Reaktionen vermeiden, müsse Fragen stellen. Wie sieht die grundsätzliche Erzählung aus? Wer verbreitet sie? Wie sieht die Lebenssituation derjenigen aus, die der jeweiligen Theorie anhängen?
"Die Gesellschaftsordnung lebt vom mitmachen der Menschen", sagt Kulla, ihre Probleme und Zwänge werden durch das eigene, meist erlernte handeln reproduziert. Es braucht nicht ein dutzend geheimer Weltenlenker, es reicht das die breite Masse das Spiel mitspielt.
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