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Di, 15:20 Uhr
01.10.2019
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie

Der Albert Schweitzer von Nordhausen

Vor einhundert Jahren gründete Dr. Karl Isemann in Nordhausen seine Kinder- und Jugendpsychiatrie. Der langen und bewegten Geschichte der Einrichtung und der Wirkkraft ihres Gründers wurde heute am Südharz-Klinikum gedacht...

Vor einhundert Jahren begründete Dr. Kurt Isemann die Kinder- und Jugendpsychatrischen Einrichungen in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel) Vor einhundert Jahren begründete Dr. Kurt Isemann die Kinder- und Jugendpsychatrischen Einrichungen in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)

Am 01. Oktober 1919 gibt Benno Wild seine 1897 gegründete „Heil- und Erziehungsanstalt für Entwicklungsgeschädigte“ auf. „Milieugeschädigte und nervenkrankte Verwahrloste“ wurden hier betreut, für 1.000 Reichsmark im Jahr. Wo der eine Mediziner in den ersten, harten Jahren der Nachkriegszeit aufgibt, will ein anderer aufbauen: Dr. Kurt Isemann. Der Doktor und sein „Kinder- und Jugendsanatorium“ werden sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten nicht nur einen Namen machen, sondern einen festen Platz in der Nordhäuser Stadtgeschichte erarbeiten.

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Auch hundert Jahre nach der Gründung erinnert man sich noch der Anfänge und beging das Jubiläum heute entsprechend feierlich in der Turnhalle des Südharz-Klinikums. Das die Nachfolger Dr. Isemanns seine Arbeit bis heute im Sinne seiner Überzeugung fortsetzen, sei das größte Geschenk das man ihrem Großvater posthum machen könnte, ließen seine Nachkommen mitteilen.

1929, also zehn Jahre nach der Gründung, verkündet die Festschrift zum Geburtstag des Sanatoriums voller Stolz, das einem in den zehn Jahren „435 Lebensschicksale in die Hände gelegt“ wurden. Die ersten Jahre waren nicht immer leicht, manchmal habe ihm „das Wasser bis zum Hals gestanden“, schreibt Isemann in der Rückschau. Inflation und Weltwirtschaftskrise fordern ihren Tribut, der Doktor, den man später als den „Albert Schweitzer von Nordhausen“ ehren wird, kann seine Klinik nur unter Einsatz seines Privatvermögens und durch Spenden am Leben erhalten. Und auch wenn man manche Talsohle zu durchschreiten hat, wächst das Institut über die Jahre. Die sogenannte „Wolfsgrube“ wird als Wohnsitz für Isemann und seine Mitarbeiter angekauft, in Sundhausen und Wülfingerode entstehen Außenstellen.

Neue Unbill droht unter den Nationalsozialisten, die der Kinder- und Jugendpsychiatrie die staatlichen Zuschüsse streichen. Der Doktor muss andere Wege gehen, wenn die Kinder weiter versorgt werden sollen und gründet 1934 die „Nervenklinik Dr. Isemann“ für Erwachsene. In seinen Häusern habe in dieser Zeit eine „vorwiegend humane Gesinnung“ geherrscht, erinnert sich die Tochter im Jahr 1989, im ländlichen Raum habe ihr Vater relativ unbehelligt seiner Arbeit nachgehen können. Das ändert sich zwischen 1940/41. Ein hektischer Anruf erreicht den Mediziner, er solle schreiben, schnell, schnell, die „schwach begabten Kinder“ seien gefährdet. Isemann weiß was das zu bedeuten hat und versucht seine Schützlinge anderswo unterzubringen, bei Freunden und Unterstützern. Alle kann er nicht retten, mindestens ein Kind fällt dem Euthanasie-Programm der Nazis zum Opfer.

Die Schrecken des Krieges, der da über den Kontinent rollt, sind für Isemann nichts Unbekanntes. Schon im ersten Weltkrieg hat er als Truppenarzt an der Westfront gedient, im zweiten großen Waffengang des Jahrhunderts leitet er Lazarette an der Ostfront. Ab 1946 kann er seine eigentliche Arbeit in Nordhausen wieder aufnehmen, die Gebäude des Instituts waren zwischenzeitlich von der Sowjet-Armee requiriert worden.

„Die Klinik hat sich ebenso rasch gefüllt wie das Jugendsanatorium. Alexander-Puschkin-Straße 17 und Naumannstraße 4 sind beide voll besetzt. Neurologische und psychiatrische Abteilungen sind mit ganzen 120 belegt. Eine kinderpsychatrische Beobachtungsstation mit 28 Betten und HNO Abteilung […] füllen das Haus bis zum letzten aus. Im Erdgeschoss des Hauptgebäudes sind dann Praxis-, Röntgen-, und Behandlungsräume untergebracht“, schreibt Isemann später. 1952 wird die Abteilung Psychotherapie eröffnet, ab 1956 zählt man rund 1000 Patienten im Jahr, Erwachsene wie Kinder und Jugendliche.

Die sozialistische Verstaatlichung macht auch vor Isemanns Lebenswerk nicht halt. 1964 werden seine Einrichtungen voll verstaatlicht, im Dezember desselben Jahres stirbt Dr. Isemann im Alter von 78 Jahren. Dem Renomeé des Hauses tut der Verlust seines Gründers keinen Abbruch, andere, nicht weniger engagierte Ärzte übernehmen in den Folgejahren die Hausleitung, allen voran Dr. med. Christian Wieck, der bis heute als einer der Pioniere der modernen Kinderpsychatrie gilt.

Obwohl man die einzige Einrichtung dieser Art im heutigen Thüringen ist, steht das gesamte Konstrukt 1991 vor dem Aus. Doch noch einmal ist das Schicksal dem Erbe des Doktors hold und kann als „Landesfachkrankenhaus“ überleben. 1995 erfolgt die Eingliederung in das Südharz-Klinikum. Die Einrichtung in Sundhausen wird von der Nordthüringer Lebenshilfe übernommen und in Wülfingerode wird das Jugendsozialwerk aktiv.

100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel) 100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)

Ein Blick ins Publikum hätte heute gereicht um zu sehen das die Kinder- und Jugendpsychiatrie auch nach 100 Jahren fest in der Region verankert ist. In der alten Klinikschule residiert das Förderzentrum Pestalozzi und die Verbidung der beiden Einrichtungen bleibt bestehen. Kooperationen pflegt man außerdem mit der Grund- und Regelschule Käthe Kollwitz und dem Humboldt-Gymnasium. Den jungen Patienten kann hier die Möglichkeit gegeben werden, ihre Ängste in der Beschulung abzulegen, erklärte Isemanns aktueller Nachfolger, Prof. Dr. Philip Heiser, das sei heutzutage alles andere als selbstverständlich.

Die schwierigen Fahrwasser der Vergangenheit hat man hinter sich gelassen. Rund 1.400 junge Patienten werden im Jahr hier betreut und man geht über Modellprojekte neue Wege. Das Erbe des Dr. Isemann kann weiter bestehen.
Angelo Glashagel
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
100 Jahre Kinder- und Jugendpsychatrie in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)
Autor: red

Kommentare
sute
01.10.2019, 20.40 Uhr
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