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Niemand muss unter einer Brücke wohnen

Donnerstag, 28. November 2019, 15:00 Uhr
Noch zeigt sich das Wetter zum Jahresende von seiner milderen Seite und wenn die Temperaturen schließlich doch noch fallen, freut man sich über die Wärme der eigenen vier Wände. Das freilich gilt in Deutschland nicht für alle, die kalten Monate sind die Zeit, in denen das Los der Obdachlosigkeit stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. Die nnz hat deswegen nachgefragt, wie man in der Region mit Obdachlosigkeit umgeht…

Symboldbild. Foto: lechenie-narkomanni/pixabay.com

Obdachlosigkeit - das Wort allein reicht um die passenden Bilder vor dem geistigen Auge erscheinen zu lassen. In verdreckte Lumpen gehüllte Gestalten, die am Straßenrand betteln und unter Brücken schlafen.

Die Realität zeichnet, wie gewöhnlich, ein komplexeres Bild als es der mentale Schubkasten vermag. „Ohne Obdach“ kann auch der sein, der Hab, Gut und Hausdach plötzlich verliert, etwa durch einen Brand oder andere Katastrophen. Jemand dem ein Verlust der Wohnung durch eine Räumungsklage ins Haus steht, gilt immerhin als von Obdachlosigkeit bedroht. Der Weg von hier bis hin zum Stereotypen Marke Landstreicher und Vagabund ist ein weiter und endet in der Regel nicht unter einer Brücke, sondern in einer Notunterkunft, einer anderen Wohnung und manchmal auch, zumindest für eine Weile, in den vertrauten vier Wänden.

„Im Landkreis Nordhausen muss niemand unter einer Brücke wohnen“, erklärt Landrat Matthias Jendricke im Gespräch mit der nnz, dafür sorge das deutsche Recht und die zuständigen Behörden. Jendricke selbst hat mit den Zuständigkeiten einige Erfahrung, im Winter des Jahres 2010/2011 ließ er, damals noch als Bürgermeister der Stadt, die vom Landkreis zum Jahresende aufgekündigte Notunterkunft kurzerhand beschlagnahmen. Die Begründung: das Recht auf körperliche Unversehrtheit der Betroffenen, ein „Schutzgut der öffentlichen Sicherheit“, werde beeinträchtigt, die Ordnungsbehörde der Stadt müsse als zuständige Stelle deswegen handeln.

Tatsächlich sind es die Kommunen, die im Fall der Fälle tätig werden müssen, so sieht des das Thüringer Ordnungsbehördengesetz (OBG) vor. In Nordhausen ist das der „soziale Dienst“ der Stadtverwaltung. Der hält im Stadtgebiet heute zwei Notunterkünfte vor, eine Folge der causa „Ulrichstraße“ aus dem Jahr 2010. Wie oft die in den vergangenen zwölf Monaten genutzt werden mussten, dazu war aus der Stadtverwaltung nicht zu erfahren. In der Vergangenheit war man da auskunftsfreudiger. Im Jahr 2017 gab man auf Anfrage aus dem Stadtrat an 203 Fälle drohender Obdachlosigkeit bearbeitet zu haben, davon 45 Wohnungslose, von denen 18 Personen untergebracht werden mussten und weitere Hilfen organisiert wurden. Heute verweist man auf das Landratsamt als zuständige Stelle.

Von Obdachlosigkeit bedroht

Nur das man sich hier nicht eigentlich mit akuter Obdachlosigkeit sondern mit der Vermeidung selbiger befasst. Der Fachbereich Soziales des Nordhäuser Landratsamtes erklärt dazu: „Fakt ist, für die Gestaltung ihres Gemeinwesens ist die jeweilige Gemeinde selbst zuständig. Und auch für die Gefahrenabwehr im Sinne des OBG. Die hiesige Notunterkunft wird von der Stadt Nordhausen betrieben. Entstehende Entgelte bei Belegung der Unterkunft werden bei bestehenden leistungsrechtlichen Voraussetzungen vom Jobcenter (SGB II) oder vom Landratsamt/FB Soziales (SGB XII) übernommen. Hier besteht eine gute fallbezogene Zusammenarbeit.“

Konkrete Zahlen sind aus dem Landratsamt ebenfalls nicht zu bekommen. Immerhin wird hier darauf verwiesen das man aufgrund verschiedener Zuständigkeiten unterschiedlicher Fachbehörden zu Fällen „drohender Obdachlosigkeit“ keine zusammengefassten Fallzahlen erheben könne.

Welcher Fachbereich wann und für wen zuständig ist, hängt vom Einzelfall ab. Bei einem „langfristig absehbaren Wohnungsverlust“, etwa durch eine Räumungsklage, greift das Sozialgesetzbuch und ermöglicht Leistungen zur Grundsicherung, zur „Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten“ und Hilfen in „anderen Lebenslagen“ für die, je nach Sachlage, andere Stellen zuständig sein können. Befindet sich eine Person im Arbeitslosengeld II-Bezug, ist zum Beispiel das Jobcenter in der Pflicht und übernimmt KdU-Leistungen (Kosten der Unterkunft) und die psychosoziale Betreuung.

„Die Sozialgesetzbücher II und XII regeln, dass das zuständige Gericht den Eingang einer Räumungsklage dem Sozialleistungsträger mitzuteilen hat. Das funktioniert hier auch. Es gehen bei uns regelmäßig Meldungen des Amtsgerichtes ein. Wir stimmen dann jeweils in enger Kooperation mit dem Jobcenter ab, wer den Fall zuständigkeitshalber weiterbearbeitet. Das Jobcenter verfügt in seiner Struktur über das Team KdU-Stelle. Soweit das Jobcenter zuständig ist, werden in diesem Team insbesondere auch Fallgestaltungen mit Komplikationen rund um Unterkunftsbedarfe bearbeitet. Für Menschen, die keine laufenden Leistungen nach dem SGB II beziehen, geschieht die Bearbeitung im Fachbereich Soziales.“, erklärt Jessica Piper, Pressesprecherin des Landratsamtes.

Obdachlosigkeit unter Migranten

Ein gewisses Risiko bestehe aus Sicht des Landratsamtes für Migranten mit anerkanntem Fluchthintergrund wie für Migranten aus dem europäischen Ausland, die auf Schwierigkeiten stoßen könnten. „Dabei multiplizieren sich die bekannten Problemstrukturen wie prekäre Beschäftigung, soziale Isolation, Jobverlust, Überschuldung, Suchtverhalten und ähnliches oft mit sprachlichem Unvermögen, sozialer und kultureller Entwurzelung und Desorientierung und gelegentlich auch mit nachwirkenden fluchtverbundenen Traumata“, teilt der Fachbereich Soziales mit. Man beobachte die Entwicklung, könne sie aber nicht „zuverlässig quantifizieren“. Konkret habe man in den letzten Monaten vier solcher Fälle mit afrikanischen Migranten registriert, die von „sozialarbeiterischer Relevanz“ gewesen seien.

Bei Asylsuchenden und Geflüchteten, die bisher keine Anerkennung erhalten haben, greift wiederum das Recht, genauer das „Thüringer Flüchtlingsaufnahmegesetz“. Dabei werde Obdachlosigkeit auch durch das Vorhalten von Gemeinschaftsunterkünften vermieden. „Dieser Personenkreis lebt während des Asylverfahrens in Wohnungen des Landkreises oder in Gemeinschaftsunterkünften. Es wird jedoch gestattet, dass diese Personen in einem Übergangszeitraum auch nach ihrer Anerkennung noch so lange in den Landkreis-Unterkünften bleiben, bis sie eine eigene Wohnung gefunden haben. Während es dafür eigentlich keine rechtliche Verpflichtung gibt, hat der Landkreis durch dieses Vorgehen aber in einer sehr hohen Anzahl an Fällen Obdachlosigkeit verhindert. Momentan leben beispielsweise gut 40 anerkannte Geflüchtete noch in den fünf aktiven Gemeinschaftsunterkünften“, heißt es dazu aus dem Landratsamt. „Die Betroffenen werden zum Beratungsgespräch eingeladen, und gemeinsam leistungsrechtliche Lösungsansätze diskutiert. Dabei wird je nach Fallgestaltung auch auf andere helfende Stellen, wie das Jugendamt, die Betreuungsbehörde, die Stadtverwaltung Nordhausen oder die AWO-Schuldnerberatung, verwiesen. In manchen Fällen ist es einfach der Arbeitgeber, der Vermieter oder ein Familienangehöriger, der helfen kann.“

Der „klassische“ Obdachlose

In der Theorie muss also niemand, ob Einheimischer oder Hinzugezogener, ohne Obdach leben, Hilfs- und Betreuungsangebote werden für alle vorgehalten. Die Befugnisse der Behörden gehen soweit, das auch Zwangsmaßnahmen angeordnet werden können. Dazu gehört etwa die „Rückverweisung“ in den bisherigen Wohnraum. Sprich: selbst bei gekündigtem Mietverhältnis kann es vorkommen, das von Obdachlosigkeit bedrohte Personen per amtlicher Anordnung temporär in ihrer Wohnung bleiben können, bis eine andere Unterbringung möglich ist und gefunden wurde. Das Instrument kann zum Beispiel dann zur Anwendung kommen, wenn besonders hilfsbedürftige Personen wie Alte, Behinderte oder Familien mit Kindern betroffen sind.

In der Praxis gibt es aber auch Menschen, die sich nicht helfen lassen wollen, zum Beispiel „Nicht-Sesshafte Personen“, Menschen, die noch am ehestem dem allgemeinen Bild des klassischen Obdachlosen entsprechen. Man erlebe Personen, bei denen die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Sozialbehörden fehle, sagt Landrat Matthias Jendricke. „Im Extremfall kann man dann auch zu Zwangseinweisungen greifen, etwa wenn im Winter Gefahr für Leib und Leben droht. Grundsätzlich besteht aber kein Zwang, es Bedarf der Mitarbeit der Betroffenen“.

Bei einer geordneten Zusammenarbeit der Betroffenen mit den Sozialbehörden müsse keiner in die konkrete Obdachlosigkeit geraten, heißt es auch aus dem Fachbereich Soziales.

Soviel zum „Wie“. Warum Menschen in die Lage geraten, ihr Dach über dem Kopf zu verlieren, welche sozialen, psychischen oder ökonomischen Ursachen dem zu Grunde liegen mögen, dass steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Ursachen dürften vielfältig sein, jedes Schicksal hat seine eigene Geschichte und die dürften, wie das Thema an sich, komplex sein.
Angelo Glashagel

Anm. d. Red.: Für wie viele Personen die Möglichkeit der Notunterbringung im Stadtgebiet im vergangenen Jahr genutzt werden musste, war von der Stadtverwaltung zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht zu erfahren.
Autor: red

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