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Flucht in den Südharz

Von Charkiw nach Bleicherode

Donnerstag, 24. März 2022, 13:00 Uhr
Das Schicksal von Millionen Menschen hat durch den Krieg in der Ukraine in den letzten Wochen dramatische Wendungen genommen. Die Journalisten Igor und Elena hat es nach Bleicherode verschlagen. Wir haben mit Ihnen über ihre Flucht, den Krieg und ihre Hoffnungen für die Zukunft gesprochen...

Elena Zazchytska mit Sohn Vadim und ihren Schwiegereltern Tamara und Igor vor der Kirche St. Matthias in Bleicherode (Foto: agl) Elena Zazchytska mit Sohn Vadim und ihren Schwiegereltern Tamara und Igor vor der Kirche St. Matthias in Bleicherode (Foto: agl)

Wir schreiben den 13. Juni 2012, Europa ist im Fußballfieber. Auch im ukrainischen Charkiw werden die Wettkämpfe ausgetragen, heute trifft die deutsche Nationalelf auf Oranje. Igor Zazchytskiy muss arbeiten. Zum Glück ist Igor Sportjournalist und kann live beim Spiel dabei sein. Auch seine Schwiegertocher Elena sieht die Partie im Charkiwer Stadion. Beide arbeiten damals für das Fernsehen. Fast zehn Jahre ist das jetzt her. Man habe sich europäisch gefühlt, sagt Igor heute. Heute sitzen Igor und Elena in einem kleinen Pfarrhaus, mitten in Deutschland. Die Millionenstadt Charkiw, ihre Heimat, mussten sie gegen den kleinen Flecken Bleicherode tauschen. Die Metropole in der Ostukraine wird von derweil von der russischen Armee belagert und bombardiert.

„Ich habe es erst nicht glauben können, ich dachte das ist ein Witz. Aber am ersten Tag des Krieges sind die Jets über unser Haus geflogen und haben in der Nähe ihre Bomben abgeworfen. Wir sind dann zu meinen Schwiegereltern gegangen, die in einem anderen Stadtteil wohnen. Aber auch da war es nicht lange sicher.“, erzählt Elena. Die Menschen verstecken sich in der U-Bahn Tunneln und Kellern, es regnet jeden Tag Bomben.

Zehn Tage bleiben sie noch in Charkiw, dann entschließen sie sich zur Flucht. Nur die wichtigsten Dokumente packen sie ein, einen Laptop, außerdem zwei Koffer mit ein wenig Kleidung für jeden. Elena’s Ehemann muss zurückbleiben, auch ihre Eltern wollen die Stadt nicht verlassen. Die junge Journalistin will ihren Sohn in Sicherheit wissen und macht sich gemeinsam mit den Schwiegereltern auf den Weg nach Deutschland. Hier hat man Freunde, die helfen können. Dem kleinen Vadim, er ist gerade einmal viereinhalb Jahre alt, erzählt man das über Charkiw ein schwerer Sturm tobe und man deswegen weg müsse.

Sechs Tage sind sie insgesamt unterwegs, mit dem Zug, zu Fuß und mit dem Auto. Schließlich landen sie in Bleicherode. Die Hilfsbereitschaft vor Ort sei überwältigend gewesen, sagen die beiden, die Familie sei „unendlich dankbar“. Im Pfarrhaus der katholischen Gemeinde in Bleicherode findet sich bald alles, was man braucht. Verpflegung, Unterkunft, Ruhe. „Die Nachrichten sind immer noch jeden Tag erschreckend und wir sorgen uns um die Unsrigen“, sagt Igor, aber man sei dabei, sich ein wenig zu erholen. „We keep the faith“, wir halten am Glauben fest, sagt Elena.

Die ukrainische Armee sei stark, sagen sie, man werde den Krieg gewinnen. Vielleicht kommt der Frieden in ein paar Tagen, hofft Igor, wohl eher werde sich der Konflikt aber noch Wochen oder gar Monate hinziehen. Das sie bald nach Charkiw zurückkehren können, glauben sie nicht, nicht mit dem kleinen Kind. „Es gibt keine Infrastruktur mehr, keine Wasserversorgung, kein Netz, keinen Kindergarten und keine Schule“, sagt Elena die noch täglich Kontakt mit den Heimgebliebenen hält und über den Telegram-Messenger versucht, Informationen zu verbreiten. Rund die Hälfte der zwei Millionen Einwohner sei aus Charkiw geflohen, schätzen die beiden Journalisten.

Wenn der Krieg vorbei ist, dann wird, nein muss die Ukraine der Europäischen Union beitreten, meint Igor. „Etwa anderes ist für mich eigentlich nicht vorstellbar. Wir haben uns schon lange europäisch verstanden“. sagt er. Mit seiner Frau Tamara hat er Spanien, Griechenland, Tschechien und Ungarn bereist. Und Charkiw selbst ist Dank der Universität eine internationale Stadt geworden. Bei einem möglichen Beitritt zur NATO sind sich die beiden Ukrainer nicht so sicher. Das sei eine schwierige, politische Frage, die sich nicht einfach beantworten ließe. Wichtig sei jetzt erst einmal, dass die Waffen schweigen. Frieden, dass ist es, was das Land jetzt braucht.

Vieles liegt im Ungewissen für die kleine Familie, aber in Bleicherode wurde man mit offenen Armen empfangen. Die Kommunikation ist schwierig, Elena und Igor sprechen fließend Russisch, und verstehen ein wenig Englisch, Deutsch lernen sie gerade. Aber im 21. Jahrhundert kann die Sprachbarriere durch Technik etwas leichter genommen werden und mit dem Handy hat man den Übersetzer immer in der Tasche. Die Lage ist nicht leicht, aber man ist in Sicherheit. Morgen will man mit dem Zug nach Nordhausen fahren, sich die Stadt ansehen und ein bisschen spazieren gehen. Das zumindest, habe eine Ahnung von Normalität.
Angelo Glashagel
Autor: red

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