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Der Stand der Dinge

Keine Insel der Glückseligen

Freitag, 13. November 2020, 17:45 Uhr
Im Landkreis Nordhausen wurden gestern 12 neue Corona-Infektionen registriert. Betroffen sind unter anderem die Grundschule und der Kindergarten Ellrich, der medizinische Bereich sowie ein Altenpflegezentrum. In Sülzhayn wurde die Gemeinschaftsunterkunft abgeriegelt. Zum Stand der Entwicklung äußerte man sich heute auch im Landratsamt…

Eingezäunte Gemeinschaftsunterkunft in Sülzhayn (Foto: privat) Eingezäunte Gemeinschaftsunterkunft in Sülzhayn (Foto: privat)

Ganz Deutschland befindet sich fest im Griff des Coronavirus. Ganz Deutschland? Nein, ein kleiner Landkreis leistet der Pandemie weiter verbissen Widerstand. So ließe sich die aktuelle Lage im Landkreis Nordhausen darstellen, zumindest wenn man die wiederholten Meldungen über den „grünen“ Status der Region überfliegt. Über einen Zaubertrank verfügen die Nordhäuser freilich nicht und ob am Ende, wie bei den renitenten Galliern im Comic, ein ums andere mal alles beim Alten bleibt, dass steht in den Sternen.

Eine Art Insel der Seligkeit sei man nicht, räumte man denn auch heute im Landratsamt ein. Die „Grundlast“ der Infektionen steige auch bei uns, unterstrich Amtsärztin Ingrid Franke, bisher habe man Glück gehabt. Auch nach 12 neuen Infektionsfällen, die gestern im Laufe des Abends bekannt wurden, bleibt der Landkreis im „grünen“ Bereich und hebt sich im bundesdeutschen Vergleich deutlich vom Rest des Landes und der näheren Umgebung ab. Noch hat man die Lage halbwegs unter Kontrolle, das Gesundheitsamt komme mit den Kontaktnachverfolgungen hinterher. Anders als im Sommer und zu Beginn des Herbstes ist es aber nicht mehr in jedem Fall möglich, auch den Ursprung einer jeden Ansteckung zu ermitteln und so die uneingeschränkte Ausbreitung zu verhindern. Diese Schlacht hat man bereits verloren.

Fakt ist aber auch: noch befindet man sich in der illustren Runde derer, die nicht als Risikogebiet gelten. Mit Blick auf die Lage im Umland will Matthias Jendricke die Entwicklung im eigenen Kreis denn auch nicht allein auf Fortunas Gunst zurückführen. „Das ist meiner Meinung nach nicht nur Glück sondern hat auch mit dem schnellen und konsequenten handeln unseres Gesundheitsamtes zu tun. Wir waren lediglich einen Tag lang Risikogebiet während sich zum Beispiel das Eichsfeld als „Hotspot“ mit relativ hohen Zahlen eingependelt hat“., sagt Jendricke.

Die Lage könne aber nur durch gemeinsame Anstrengungen beibehalten werden. Es läge in der Verantwortung eines jeden Einzelnen, dass gar nicht erst viele Fälle aufkommen, meint der Landrat. „Jeder einzelne Fall ist wichtig, wenn wir es laufen lassen, kriegen wir es nicht mehr eingefangen“. Jendricke appeliert an die Bevölkerung, sich an die Regeln zu halten und auch über die Festtage größere Zusammenkünfte zu vermeiden. „Wir danken allen, die so sorgfältig sind und sich aus eigenem Antrieb bei uns melden wenn ihnen ein möglicher Kontakt bekannt geworden ist“, ergänzte Amtsärztin Franke. Die Be- und Überlastung vieler Gesundheitsämter bringe es mit sich, dass man sich nicht allein auf den Informationsfluss zwischen den Behörden verlassen könne. Private Meldungen, wie man sie etwa im Falle der Infektion am Humboldt-Gymnasium erlebt hat, würden es dem Nordhäuser Gesundheitsamt ermöglichen, schneller tätig zu werden. Bei dem Infektionsfall am Humboldt hatte sich die Betroffene Person noch vor den Kollegen aus dem Eichsfeld im Nordhäuser Amt gemeldet.

Landkreis sieht sich vorbereitet

Man habe sich zwar auf eine Verschärfung der Lage in der kalten Jahreszeit eingestellt, sei aber von der schnellen Ausbreitung im Herbst doch überrascht gewesen, erklärte Jendricke. Der Virus sei aus den alten Bundesländern zügig gen Osten gewandert, die Lage im Eichsfeld lasse sich etwa auf die Entwicklungen in Hessen, in Südthüringen auf die in Bayern zurückführen. Hier hätten Gegenmaßnahmen früher erfolgen müssen, inzwischen seien die neuen Bundesländer „eingekreist“.

Die Lage stelle sich aber anders dar als im Frühjahr. Im Lager des Katastrophenschutzes werden rund 1,5 Millionen Masken aufbewahrt, an Hygienematerial bestehe kein Mangel mehr. Zudem ist man dabei, dass Gesundheitsamt personell zu verstärken. Auf vier ausgeschriebene Stellen in der Kontaktnachverfolgung und dem Außendienst seien zuletzt rund 200 Bewerbungsschreiben eingegangen. Die Verstärkung wird man in einem abgesonderten Trakt des Herder-Gymnasiums unterbringen, der in normalen Zeiten von der Kreisvolkshochschule genutzt wird. Der Bereich werde vollkommen selbstständig und abgegrenzt vom Schulbetrieb arbeiten, voraussichtlich für die kommenden sechs bis neun Monate. Zur Zeit ist man noch mit den nötigen Vorbereitungen beschäftigt, im Dezember werde man hier den Betrieb aufnehmen können.

Das Alltagsgeschäft bleibt liegen

Im Gesundheitsamt dürfte man die personelle Verstärkung mit Freuden erwarten. Das Hauptgeschäft liege im Moment in der Nachverfolgung der Kontakte um Infektionsketten unterbrechen zu können, führte Frau Dr. Franke aus. Je nach Lage könne ein einziger Fall hunderte Telefonate nach sich ziehen. Hinzu kommen Infektionsschutzkonzepte die beurteilt werden müssen oder die Untersuchung von Reiserückkehrern. „Aber Corona ist nur eine von 53 meldepflichtigen Krankheiten und auch die anderen warten nicht und müssen ebenso zügig nachverfolgt werden“, erklärt die Amtsärztin. Andere Alltagsangelegenheiten wie sonst übliche Reihenuntersuchungen würden dafür brach liegen. Wenn die Belastung im kommenden Frühsommer weniger werden sollte, werde man einiges aufzuarbeiten haben.

Für Personen, deren Angehörige und Familienmitglieder in Quarantäne geschickt werden und für mögliche Risikogruppen sei es ratsam, sich „für besondere Situationen“ mit FFP-2 Masken auszustatten. Diese böten einen deutlichen höheren Schutz als einfache Masken und würden bei korrektem Einsatz die Arbeit des Gesundheitsamtes im Ernstfall erleichtern. „So dies noch nicht geschehen ist, sollte jede medizinische Institution, von der Physiotherapie über den Zahnarzt bis zum Altenheim, den Einsatz von FFP-2 Masken jetzt unbedingt noch einmal prüfen“, unterstrich Amtsärztin Franke. Im Sommer habe man mit der Lage entspannter umgehen können, nun sei diese Empfehlung absolut notwendig.

Flüchtlingsunterkunft abgeriegelt

Entscheidend sei zügiges handeln. Innerhalb der ersten vier bis fünf Tage seien frisch infizierte Personen selber noch nicht ansteckend. Gelingt die Isolierung der Betroffenen in diesem Zeitraum, bleiben mögliche Folgeinfektionen begrenzt, etwa auf das häusliche Umfeld, oder können ganz vermieden werden. Im Infektionsfall an der Gemeinschaftsunterkunft in Sülzhayn habe man dieses Zeitfenster verpasst. Es sei daher nicht auszuschließen, dass mehr Personen betroffen sind, als bisher bekannt. Die Ansteckung in der GU hat bereits eine Reihe Quarantänemaßnahmen nach sich gezogen, neben den Familienmitgliedern befinden sich auch enge Freunde der Familie, eine Kindergartengruppe und eine Schulklasse aus Ellrich sowie ein Sprachkurs.

Das Landratsamt reagierte auf die Lage jetzt mit drastischen Maßnahmen und ließ die gesamte Einrichtung mit einem Bauzaun absperren. Er habe „hohen Respekt vor den Menschen die dort leben und das hinnehmen“, erklärte Jendricke, die „stringente Maßnahme“ sei notwendig um „absolut sicherzustellen dass sich keine weitere Infektlage im Ort ausbreitet“. Die Umsetzung der Tests und der weiteren Schritte sei gut verlaufen, ergänzte der erste Beigeordnete Stefan Nüßle. Dank des Einsatzes von Dolmetschern, die zum Teil auch aus den Reihen der Geflüchteten stammten, habe man die Umstände gut erläutern können. Die Eingeschlossenen würden versorgt, in der kommenden Woche sollen alle Bewohner getestet werden. Wenn man durch die Tests weitere Klarheit erlange, werde die Absperrung wieder zurückgefahren.

Frei von Kritik ist die Herangehensweise des Landratsamtes nicht. Eine nnz-Leserin, die ungenannt bleiben möchte, bezeichnete die Einzäunung heute als „zutiefst unmenschlich“, das Handeln der Behörden erinnere eher an den Umgang mit Tieren. Man bestrafe die Schwachen, diejenigen über die man Macht ausüben könne, wären man sonst die Einhaltung von Quarantänemaßnahme wenig bis gar nicht überprüfe. Gänzlich aus der Luft gegriffen ist dieser Vorwurf nicht, Verstöße hatte es in jüngster Zeit in Nordhausen gegeben, etwa in einer Physiotherapiepraxis. Hier musste man, nachdem ein Besucher seine Auflagen wissentlich ignorierte, für zwei Wochen auf eine wichtige Mitarbeiterin verzichten. Mehr geschah zum Glück nicht, die betroffene Therapeutin blieb gesund, musste aber den Vorgaben entsprechend in Quarantäne geschickt werden.

Der Landrat hielt der Kritik entgegen, dass man andernorts ebenfalls zu weiträumigen Einzäunungen gegriffen habe, etwa bei größeren Ausbrüchen in der Fleischindustrie während des Sommers, oder bei einem ganzen Wohnblock in Magdeburg. Sollten sich durch die Quarantäne des Sprachkurses weitere Infektionen in anderen Unterkünften zeigen, werde man bei Bedarf ähnlich handeln. Grundsätzlich gelte das nicht nur für die Unterbringung von Geflüchteten, sondern für alle Gemeinschaftseinrichtungen, wie zum Beispiel Kinder- und Jugendheime oder ähnliches.

Wo Menschen in den eigenen vier Wänden leben, müsse man darauf vertrauen das sich die Betroffenen an die Auflagen hielten. Die Bescheide des Gesundheitsamtes regelten klar und deutlich, was erlaubt sei und was nicht, wobei bereits die mündliche Anordnung bindend sei und Betroffene nicht erst auf das entsprechende Schreiben warten müssen. „Ich kann nur jedem raten die Quarantäneanordnungen Ernst zu nehmen. Wenn es bei Zuwiderhandlungen zu Folgeinfektionen kommen sollte, dann sind wir als Landratsamt mit dem Bußgeld nicht die Schlimmsten.“, sagt Jendricke, auch die Staatsanwaltschaft könnte wegen gefährlicher Körperverletzung oder, im schlimmsten Fall, wegen fahrlässiger Tötung an die Tür klopfen. Hinzu kämen etwaige Schadensersatzforderungen und Folgekosten. Eine Quarantäne sei keine „Freiheitsberaubung“, sondern die einzige Möglichkeit, Infektionsketten effektiv zu unterbrechen.

Jendricke und Franke wiesen noch einmal daraufhin, dass man das Gesundheitsamt via E-Mail auch am Wochenende kontaktieren kann. Wichtig sei dabei aber die Angabe einer Telefonnummer, da dies die primäre und wichtigste Kontaktmöglichkeit sei.

Dass der Landkreis seinen „grünen“ Status halten kann, ist fraglich. Die Lage kann sich schnell ändern, vielleicht noch im Laufe des Abends, wenn die ersten Testergebnisse des Herder-Gymnasiums erwartet werden.
Angelo Glashagel
Autor: red

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