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Die sieben Wunder von Nordhausen

Kaiser, Schuster und ein bisschen Größenwahn

Freitag, 12. Juni 2020, 18:00 Uhr
Sieben Weltwunder kennt man aus der Antike, monumentale Kunstwerke einer verlorenen Zeit. Ein paar Jahrhunderte später nahm sich eine kleine Stadt am Harzrand die Altvorderen zum Vorbild und erdachte sich ihre eigenen „sieben Wunder“. Heute sind sie fast vergessen. Doch das soll sich ändern…

Was hat es mit den Sieben Wunder Nordhausens auf sich?  (Foto: agl) Was hat es mit den Sieben Wunder Nordhausens auf sich? (Foto: agl)

In dem kleinen Städtchen haben sich Bürger ans Werk gemacht, die Renaissance der Renaissance einzuläuten und der Stadt ein Stück ihrer Geschichte wieder vor Augen zu führen. Der Rückblick lohnt sich, hält die Vergangenheit doch die eine oder andere amüsante Episode und Einsichten in Denken und Selbstverständnis der alten Nordhäuser bereit, von denen manche vielleicht bis heute nachwirken.

Man ist ja wer


Beginnen wir in der jüngeren Vergangenheit. Genauer auf der A38, kurz vor ihrer Eröffnung. Drei „Nordhäuser“ - Abfahrten sollte es damals geben (heute sind es lediglich zwei, die dritte hat man den Heringern zugesprochen). Dieser junge Fahrer, just im Besitz seines Führerscheins, konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die neue Autobahn seiner Heimatstadt fast schon so etwas wie Großstadt-Charme verlieh. Was mag der Auswärtige wohl denken, der diesen Abschnitt passiert? Vermutet er hinter den Leitplanken eine veritable Metropole?

Dem entgegen stand freilich der aus der Erfahrung geborene Eindruck, dass man in der Provinz groß geworden ist. Im Niemandsland zwischen weitaus größeren Zentren im Osten, Süden und Westen, deren Gravitation alles Interessante und Aufregende vom eigenen, kleinen Orbit abzieht und aufsaugt. Auf dem Fuße folgte schnell der nächste Gedanke - dass es für Nordhausen mal wieder etwas mehr sein musste. Dass man sich leicht erhöht und größer darstellt, als man eigentlich ist. Dass die Nordhäuser an sich ein wenig Größenwahnsinnig sein können. Dass es für die vergleichsweise kleine Stadt am Harzrand gerne etwas mehr sein darf. Ein neues Museum, ein größeres Bürgerhaus, ein (brachliegendes) Industriegebiet, ein neues Stadion, eine neue Bahnlinie - aus der jüngeren Geschichte ließen sich diverse Beispiele zur Stützung der These heranziehen, wobei die Beweisstücke je nach Blickwinkel freilich individuell anders ausfallen könnten.

Die Gedankengänge seien dem jungen Selbst verziehen, die angelegten Maßstäbe und Perspektiven waren damals andere. Man ist sicherlich nicht „niemand“, nicht nur „Provinz“. Im Teich des Thüringer Nordens gibt es keinen größeren Fisch und der Fisch weiß das. Aber manchmal blickt er doch hinüber, ein wenig neidisch vielleicht, auf die größeren Gewässer und ihre dominanten Bewohner. Und das ist nicht neu.

Ein Kaiser muss es schon sein


Wer hat Nordhausen gegründet? Die Franken waren es, im frühen 9. Jahrhundert nach Christus, vermutet die Wissenschaft. Urkundlich belegt ist der „Geburtstag“ der Stadt für das Jahr 927, König Heinrich I. gilt als „Vater“ der Stadt. Zwischen Rathaus und Dom hat man sich jahrhundertelang noch eine ganz andere Geschichte erzählt, die von der Merwigslinde. Der Legende zufolge hat Nordhausen seine Existenz weder den Franken noch Heinrich zu verdanken sondern einem gewissen „Merwig“. Der stets gute und gerechte König war nicht von adeligem Geblüt, sondern Sohn eines Schustermeisters, der vom Volk erwählt wurde die Geschicke des Landes zu leiten. Alle sieben Jahre, so die Sage, zog Merwig mit seinen alten Zunftgenossen auf den Geiersberg, um ein großes Fest zu feiern. Da auf dem kahlen Berg kein Schatten zu finden war, wurde eine Linde gepflanzt. Und hier steht die (oder vielmehr eine) „Merwigslinde“ bis heute.

Im frühen 16. Jahrhundert kam eine zweite Erzählung auf. Nun war es nicht mehr der mythische Volkskönig, der Nordhausen aus der Taufe hob, sondern der sehr reale oströmische Kaiser Theodosius II. Warum einen König nehmen, wenn man einen Kaiser als Gründervater haben kann? Schließlich war man ja wer, eine „freie Reichsstadt“ und damit keinem Fürsten und keinem Bischoff Untertan, sondern nur dem Kaiser zur Treue verpflichtet. Die Stadt war gut befestigt, dank Biermonopol und Schnapsbrennerei zu Wohlstand gekommen und den adeligen Herren in der Nachbarschaft stets ein Dorn im Auge. Mit den Nordhäusern musste man rechnen. Zumindest in ihrem Nordthüringer Teich.

Gänzlich „frei“ war man indes nicht, die Kontrolle über wichtige und einflussreiche Ämter blieb der Stadt noch auf Jahrhunderte hinaus verwehrt und anders als die Schwesterstadt Mühlhausen, die zweite freie Reichsstadt in Thüringen, gelang es den Nordhäusern nie, ihr Herrschaftsgebiet über die Grenzen hin auszuweiten, die auch heute noch grob das Stadtgebiet ausmachen. Man war nicht „niemand“ aber die Realität am Boden war vielleicht nicht ganz so glorreich, wie das die stolzen Bürger gerne gehabt hätten.

Die sieben Wunder


Aber wer lässt sich schon von Fakten aufhalten? Die alten Nordhäuser jedenfalls nicht. Das Theodosius II. gerade einmal sieben Jahre alt war, als er Nordhausen gegründet haben soll, oder das die Byzantiner im 5. Jahrhundert nach Christus mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts mit dieser obskuren Ecke im wilden Germanien zu schaffen hatten, wen kümmert das schon? Wir sind Kaiser! Römischer Kaiser, um genau zu sein. Nicht irgendein dahergelaufener Schuster.

Man schmückte sich mit dem Chic der Zeit und die stand ganz im Zeichen der „Renaissance“, der großen Wiederentdeckung der Antike. Der goldverzierte Theodosius-Stein, der die höchstkaiserliche Veredelung der Stadt buchstäblich untermauerte, wurde zu einem der „sieben Wunder“ Nordhausens. Pyramiden, Koloss und hängenden Gärten setzten die Nordhäuser Adler, Roland und Kanone entgegen.

Dabei ging es der Stadt vermutlich vor allem um eines: Repräsentation. Der Roland, bis heute das Wahrzeichen der Stadt, wurde als Symbol für die eigene Freiheit und Gerichtsbarkeit zu den „Wundern“ gezählt wie auch das Rathaus, als Sitz der bürgerlichen Hoheit über die Stadt.

Zur „Wasserkunst“ oder „canalis“ zählten neben dem alten Mühlgraben aus fränkischer Zeit auch die aufwendigen Brunnen, die man mit Figuren der griechisch-römischen Mythologie zierte. Die Auswahl von Neptun, Triton und Meerpferd geschah nicht aus einer Laune heraus. Die Symbolkraft der Motive war den Nordhäusern durchaus bewusst, meint etwa Kunsthistorikerin Jessica Müller. Dank des ersten, bürgerlichen Gymnasiums genoss man eine gewisse Bildung und kannte sich wohl bestens bei Homer und Vergil aus. Und wieder ist es die Verbundenheit zum Kaiser, die man zur Schau trägt - die Meeresgottheiten der Antike gelten in der Renaissance als Zeichen gerechter Herrschaft.

Der „Aar“ oder Adler thronte einst auf einer Säule am unteren Ende der Rautenstraße, der Name „Vor dem Vogel“ erinnert noch heute an den einstigen Standort. Das gekrönte Original ist noch im Flohburg-Museum und als moderne Verneigung vor der Stadtgeschichte auf dem Rathausplatz zu sehen. Der Reichsadler repräsentiert nicht nur die Verknüpfung zum Kaiser, sondern auch das Wachstum der Stadt - der Ring im Schnabel soll die Vereinigung der Kernstadt mit der „nova villa“, der Neustadt symbolisieren. Die erstrecke sich zwischen Neuem Weg und Lohmarkt und war bis zum Jahr 1365 eigenständig. Wie es sich für eine stolze Stadt gehört, war der Ring natürlich ebenfalls vergoldet.

Überhaupt haben die Nordhäuser für ihre Wunder zum Teil sehr tief in die Tasche gegriffen. Der „Lindwurm“, eine fast sieben Meter lange Feldschlange, wurde von einem Nürnberger Meister eigens für Nordhausen gegossen und schlug damals mit 3.500 Gulden zu Buche, berichtete jüngst Michael Garke. Bei einem jährlichen Gesamtbudget von etwa 12.000 Gulden eine mehr als stolze Summe. Wo der „Lindwurm“ abgeblieben ist, wissen die Historiker heute nicht zu sagen. Sicher ist nur, dass die Kanone von den Preußen im siebenjährigen Krieg verschleppt wurde. Ihr Ende fand sie vermutlich in einem Schmelzofen.

Weniger pompös kam die bis heute vorhandene „Elisabeth-Quelle“ daher, der als einziger Frischwasserquelle der Stadt besondere Bedeutung zukam und der man heilende Kräfte zusprach.

Welche Schlüsse mag man nun aus all dem ziehen? Kann eine Stadt eine Art inhärente Genetik, ein gemeinsames kulturelles Gedächtnis haben, das sich durch die Jahrhunderte zieht und manifestiert? Oder anders ausgedrückt: neigen die Nordhäuser tatsächlich zum „Größenwahn“? Auf der einen Seite steht der schier unmögliche Vergleich mit den echten Weltwundern. Nur stand man mit derlei Attitüden nicht alleine da: auch in anderen Städten schuf man sich die eigenen „Wunder“, unter anderem in Jena. Neben dem Schmuck der Stadt hatten Roland, Lindwurm, Adler und Co. zudem auch eine für die Zeit nicht zu unterschätzende Funktionalität - sieh her, uns schützt der Kaiser. Sieh her, wir sind wehrhaft. Und nicht zuletzt: Kaiser, sieh her und vergiss uns bitte nicht, wenn die Hohnsteiner und Schwarzburger mal wieder die Muskeln spielen lassen.

Den Kotau vor der adeligen Obrigkeit hat man heute nicht mehr nötig und auch vor den Nachbarn muss man sich nicht länger fürchten. Die Heringer belagert man heute nicht mehr, man gönnt ihnen eine Autobahnabfahrt. Und kann man sich manchmal nicht des Eindrucks erwehren, das der Norden des Freistaates immer etwas lauter „Hier!“ rufen muss, als andere.

Ein bisschen Repräsentation kann da vielleicht nicht schaden. Dem eigenen Bürger gegenüber, denn, ja, man ist nicht niemand. Aber auch mit Blick auf den Gast und Besucher, kommt er nun aus dem Erfurter Regierungsviertel oder als zahlender Tourist, dem sich eine moderne Stadt präsentiert, die ihren alten Glanz nicht ganz vergessen hat und die nicht vergessen werden sollte.
Angelo Glashagel
Autor: red

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