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Filmpremiere in Bleicherode

Ein Abend wie kein Zweiter

Mittwoch, 12. Februar 2020, 15:23 Uhr
So einen Abend hat man in Bleicherode noch nicht erlebt und wird ihn wohl auch so schnell nicht wieder erleben. In der kleinen Kali-Stadt wurde gestern außergewöhnliche Filmpremiere gefeiert. „Lotti - oder Bleicherode der etwas andere Heimatfilm“, heißt der Streifen, die Stars auf dem roten Teppich waren die Bleicheröder selbst...

Große Filmpremiere in Bleicherode (Foto: Angelo Glashagel) Große Filmpremiere in Bleicherode (Foto: Angelo Glashagel)

Als der Vorhang fällt, regnet es goldenes Lametta, das Publikum spendiert stehende Ovationen und draußen wartet schon die Eröffnung des „Walk of Fame“, in der Bleicheröder Version. In der alten Kali-Stadt feierte man gestern Abend ein Fest, wie es hier wohl noch kein zweites gab. Nach anderthalb Jahren Entstehungsgeschichte bekamen die Bleicheröder endlichen ihren Film zu sehen.

Denn was hier über die Leinwand lief, war kein gewöhnlicher deutscher Kinostreifen. Das fing schon bei der ersten Idee an, denn seine Entstehung hat „Lotti“ einem Zufall zu verdanken. Filmemacher Hans-Günther Bücking war im Herbst 2018 beruflich auf dem Weg in den Harz, als er einen Stopp in seiner alten Heimatstadt einlegte, die er in jungen Jahren mit seinen Eltern verlassen hatte. Ob es wohl das alte Kino noch gab das er zuletzt als sechsjähriger betreten hatte? Das kleine Filmtheater stand noch an Ort und Stelle. Und hier traf Bücking auf Alf Schneider, den Kinobetreiber. Man kam ins Gespräch und aus dem Gespräch wurde eine verrückte Idee: man würde einen eigenen Film drehen. Für Bleicherode, von Bleicherödern. Auf Stars und Sternchen wollte man größtenteils verzichten und stattdessen Bleicheröder Gesichter zeigen.

Bis zur gestrigen Premiere sollten rund anderthalb Jahre vergehen. Regisseur Bücking und sein Team arbeiteten bis zur letzten Minute an dem 90minütigen Spielfilm, der seinen allerletzten Schliff einen Tag vor der Erstaufführung erhielt.

Der Film erzählt die Geschichte von Lotti Funke, gespielt von Marion Mitterhammer, die zur Beerdigung ihrer Mutter nach Bleicherode zurückkehrt. Vor zehn Jahren verließ sie ihre Heimatstadt, die damals sechsjährige Tochter Jenny blieb in der Obhut der Mutter zurück. Die Jugendliche steht jetzt alleine da, will von der entfremdeten Mutter aber nichts mehr wissen. Zu den familiären Verwerfungen kommen finanzielle Schwierigkeiten: der Bestatter will von Lotti 3.500 Euro haben. Geld das Lotti nicht hat.
In Bleicherode kennt man die Heimkehrerin freilich noch, nicht allein weil sie ein Kind der kleinen Stadt ist, sondern auch weil sie in Wien eine Filmkarriere der etwas anderen Art hingelegt hat. Die ein wenig in die Jahre gekommene Lotti hat sich einen Namen als Pornostar gemacht. Das bringt den einen oder anderen Bleicheröder Herren auf unmoralische Ideen und sorgt zwischen Fleischertheke und Kaffeehaus für jede Menge zündenden Gesprächsstoff.

Herausgekommen ist ein Drama, das gleichzeitig Komödie mit derben Witz und auch ein Stück Gesellschaftsspiegel ist. „Der Film ist auch ein Blick auf das Leben in so einem kleinen Ort. Da kennt jeder jeden, jeder ist gegen jeden oder auch nicht und das kann sehr amüsant sein. Da kann man eine Menge rausholen.“, erzählt uns Regisseur Bücking am Rande der Premierenfeier. In der Bäckerei wird Lotti gar nicht erst bedient, im Café macht man ihr mehr als deutlich was man von ihrem Lebenswandel hält und selbst der verschroben liebenswürdige Fleischermeister, der der Dame in Not einen Job gibt, kann von derben Witzen rund um Lottis Erfahrungen mit dem „Fleisch“ nicht lassen. Trotzdem steckt Lotti die Männer alle in die Tasche, vom Unternehmer Eduard „Eddie“ Weinstein über ihren Produzenten „Rokko“ bis zum Bestatter Ernst und seinen Trinkkumpanen. Auf dem Weg zu ihrer Tochter läuft sie hingegen immer wieder gegen Wände und steht vor den Trümmern ihrer eigenen Entscheidungen.

Marion Mitterhammer als „Lotti“, Bruno Jonas (Eddie) und Thomas Rohmer (Rokko) sind dabei die einzigen professionellen Schauspieler. Alle anderen Rollen, insgesamt 28 an der Zahl, werden von Bleicherödern verkörpert, die zuvor noch nie vor eine Kamera gestanden haben, geschweige denn eine Ahnung davon haben, wie so ein Filmdreh funktioniert.

Das hier Laien, nicht ausgebildete Mimen, vor der Kamera stehen, sieht man dem finalen Film freilich an. Aber das ist gewollt und Bücking gibt seinen Laien-Darstellern viel Raum für ihr Spiel. Der Film erzählt nicht eine geradlinig aufgeschnürte Geschichte sondern nimmt sich immer wieder Zeit für kleine Momente, Vignetten die sich den vier Wänden, den Cafés, Geschäften und Hinterzimmern der Gemeinde abspielen. „In den ersten Tagen waren die Leute noch wesentlich gehemmter aber nach vier Wochen Dreh hatten sie jede Scheu verloren“, erzählt Bücking. Und auch das sieht man dem Film an. Die Bleicheröder Schauspieler haben alles gegeben und durften sich dafür gestern Abend zu Recht feiern lassen. „Ich bin jetzt wohl die Zicke von Bleicherode“, erzählt etwa Diana Kölling, mit einem Lächeln auf den Lippen. Im Alltag sitzt sie bei den Stadtwerken über Finanzen und Rechnungen, als „Mandy“ durfte sie sich als intrigante Hausfrau und Klatschtante austoben.

Das es ein Genuss war, Freunden, Bekannten, Verwandten und Mitbürgern auf der Leinwand zuzusehen, war dem Bleicheröder Publikum deutlich anzumerken. Rentnerin Gisela Kalensky gibt die rüde Familienmatriarchin Gertrude Krautwurst und erntet für ihre kurzen Auftritte viele Lacher. Die Teenager Joyce Schenk und Jessika Weiss spielen die Freundinnen Jenny und Kitty, Vanessa Lenk die betrogene Ehefrau Gitty, Kinderärztin Susanna Bednarzik die nur scheinbar saubere Lutzi, Gregor Mühlhaus den Bestatter Ernst und Andreas Schieke den erblindeten Schreiner Benno, um nur einige zu nennen.

Auch hinter der Kamera tummelten sich vor allem Bleicheröder. Kinochef Alf Schneider half Regisseur Bücking mit der Kameraarbeit, Ina Burghardt übernahm die Produktionsleitung, Christel Linsel die Maske, Judith Srocke das Szenenbild. Ricardo Meyer Licht und Ton, und, und, und.

Regisseur Hans-Günter Bücking: "Das war der anstrengenste Film denn ich je gedreht habe" (Foto: Angelo Glashagel) Regisseur Hans-Günter Bücking: "Das war der anstrengenste Film denn ich je gedreht habe" (Foto: Angelo Glashagel) „Das war der anstrengendste Film den ich je gemacht habe aber es hat auch sehr viel Spaß gemacht“, resümiert der Regisseur. Dafür das man mit minimalen Mitteln arbeiten musste, für die Beleuchtung etwa behalf man sich lediglich mit zwei Neonröhren, ist das Endprodukt visuell nicht von einer „großen“ Kinoproduktion zu unterscheiden. Bücking weiß vor allem die melancholischen wie die rustikalen Seiten der Stadt einzufangen und seinen Film atmosphärisch zu untermalen. Musikalisch blieb man der Region ebenso treu ohne das man sich verstecken müsste - den Soundtrack lieferte die Band „EMMA“. Dafür hakt es immer wieder etwas bei der Vertonung der Dialoge, dass soll hier nicht verschwiegen werden und in den letzten Minuten rast der Film ein wenig zu schnell seinem Ende entgegen, entlohnt dafür aber mit einigen der witzigsten und abstrusesten Szenen.

Dem zum Trotze bleibt festzuhalten das ein Projekt wie dieses herzlich wenig Kritik verdient hat. Die Finanzierung des außergewöhnlichen Unterfangens lief außerhalb des üblichen Systems der deutschen Filmförderung und ohne die Hilfe eines großen Verleihs oder Studios. Stattdessen konnte und musste man sich auf die Unterstützung einer langen Liste an Sponsoren und Helfern verlassen, die von der Thüringer Staatskanzlei bis hinab zum lokalen Bäcker reicht.

Der "Walk of Fame" in Bleicherode (Foto: Angelo Glashagel) Der "Walk of Fame" in Bleicherode (Foto: Angelo Glashagel)

Regisseur Bücking, Hauptdarstellerin Marion Mitterhammer und der Bleicheröder Cast wurden am Abend mit einem ganz eigenen "Walk of Fame" vor dem Bleicheröder Kino geehrt

„Das ist eine Erfahrung, die sie nie vergessen werden, von der Sie noch ihren Kindern und Enkeln berichten werden“, sagt Marion Mitterhammer am Abend und dürfte damit wohl recht behalten. „Lotti“ darf mit Fug und Recht als Meilenstein gelten. Für die Bleicheröder, die etwas geschafft und geschaffen haben, was bis dato niemand auch nur versucht hat und für die deutsche Filmgeschichte, die ein Projekt dieser Art wohl noch nie gesehen hat.

Der „etwas andere Heimatfilm“ wird sich nicht nahtlos ins Raster der allgemeinen Sehgewohnheiten des breiten Publikums einpassen. Durch seine „etwas andere“ Entstehungsgeschichte hätte es „Lotti“ aber durchaus verdient, auch einem breiteren Publikum präsentiert zu werden, sei es auf einigen der großen Leinwände im Freistaat oder im Programm des Mitteldeutschen Rundfunks. Ob es dazu kommt, steht in den Sternen. Sicher ist aber, dass „Lotti“ bis zum 11. März im Filmtheater Bleicherode zu sehen sein wird, zwei mal am Tag, jeweils um 17 und 20 Uhr.
Angelo Glashagel
Autor: red

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