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Dichterstätte Sarah Kirsch

Meine Welt ist nicht von Pappe

Montag, 09. Dezember 2019, 11:36 Uhr
In der letzten Veranstaltung des Jahres lässt Karin Kisker von der Dichterstätte in Limlingerode den Dichter und Schriftsteller Paul Scheerbart zu Wort kommen. Der verstand sich künstlerisch, eigenen Angaben zufolge, als Mittler zwischen den Zeiten, schrieb für kommende Generationen – also für uns...

Und ja – wir werden erkunden, ob er seiner Mittlerrolle vor uns gerecht zu werden vermag. Ich will aber an dieser Stelle nichts vorweg nehmen. Lassen Sie sich überraschen! Sie werden garantiert überrascht sein!

Als Sohn eines Danziger Zimmermanns wurde Scheerbart am 08. Januar 1863 geboren. Eigentlich hatte er sich seinen Lebensweg zunächst als Missionar vorgestellt, wandte sich dann aber Philosophie und Kunst zu. Seit 1887 lebte und wirkte er in Berlin. Man muss ihn sich als einen Künstler vorstellen, der seine Persönlichkeit völlig unbeeindruckt von gängigen Konventionen und Kunstvorstellungen entwickelte. Der große Erfolg blieb ihm damals wie heute jedoch versagt. Zu abseitig schienen und scheinen seine Phantasien. Einerseits nicht ernst genug, um ernst genommen werden zu können und andererseits wiederum all zu abseitig komisch, um lachen zu können, entzieht sich sein Werk bis heute der Gunst eines breiteren Publikums. Das stellt für mich das Problem dar, sowohl dem Dichter Scheerbart, als auch einem geneigten Publikum mit einem ca. 60-Minuten-Programm gerecht werden zu können.

Paul Scheerbart – Poet, Erzähler und Dramatiker (Foto: Karin Kisker) Paul Scheerbart – Poet, Erzähler und Dramatiker (Foto: Karin Kisker)

So überrasche ich am Samstag mit einer Textcollage, bette seine Lyrik in einen seiner Prosatexte ein, der u.a. die wissenschaftlich phantastische Seite der Dichterpersönlichkeit gut vorstellbar werden lässt. Scheerbart verstand sich nämlich auch als Wissenschaftler. Kausalitäten diesbezüglich ließen ihn aber unbeeindruckt. Seine wissenschaftlichen Grundprinzipien orientieren sich nicht an geltenden Gesetzen, was seinen Texten eine unverwechselbare Prägung verleiht – eine Art Verschmelzung von Kunst und Technik.

Konstruktion und Logistik werden bei Scheerbart überschrieben durch Intuition und Erfahrung. Auf die Kunstwelt seiner Zeit hatte er, trotz seiner Erfolglosigkeit am Kunstmarkt, nachhaltigen Einfluss. Er war einer der ersten Dadaisten, beeindruckte die Expressionisten, nahm Einfluss auf das experimentelle Theater eines Alfred Jarry. Mit Kubin stand er im Briefwechsel, Kokoschka malte ihn, Benjamin widmete ihm einen Essay. Angeregt von seiner Abhandlung „Glasarchitektur“, gründete der Architekt Bruno Taut die Gruppierung „Die gläserne Kette“ und widmete Scheerbart sein Glashaus auf der Kölner Werkbundausstellung 1914. Mit seinem Freund Erich Mühsam gründete Scheerbart 1892 den „ Verlag deutscher Phantasten“. In seinem Aufsatz „Scheerbartiana“bezeichnet Mühsam seinen Freund Paul als den humorvollsten Phantasten unter den phantasievollsten Humoristen.

Ernst Rowohlt begründete 1909 mit Scheerbarts Lyrikband „Katerpoesie“ seinen ersten Verlag. „Katerpoesie“ umschreibt übrigens die Entstehungsgeschichte so manch eines seiner Gedichte, das seine Existenz einem vorausgegangenen Alkoholexess verdankt. Das tut der Sache selbst aber keinen Abbruch. Im Gegenteil, denn Scheerbart vertrat mit Vehemenz die Theorie von der entwicklungsfördernden Misere, die ihm seinen Verhältnissen entsprechend, weiten Raum und frische Luft für seine Kunst verschaffte. Der Künstler lebte und wirkte in der Inkubationszeit der großen Krise vor dem ersten Weltkrieg. 1915 nach dem Ausbruch des Krieges starb er.

Wir wollen mit unserem Programm an den Dichter und Phantasten Paul Scheerbart erinnern. Die Dezemberveranstaltung in Limlingerode findet am Sonnabend vor dem dritten Advent zur üblichen Zeit, um 14:30Uhr, in den Räumen der „Dichterstätte Sarah Kirsch“ statt.
Karin Kisker
Autor: red

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