nnz-online
Michael Garke entführt in Nordhausens Unterwelt

Am Anfang war die Dunkelheit

Mittwoch, 25. September 2019, 11:45 Uhr
Unter unseren Füßen schlummert die Geschichte der Stadt. Michael Garke hat sich mit seiner Spezialkamera in Nordhausens Unterwelt hinabbegeben und neben beeindruckenden Bilder erstaunliche Fakten zur jüngeren Vergangenheit der Stadt zu Tage gebracht. Die Ergebnisse werden demnächst als interakives Buch veröffentlicht...

"Nordhäuser Unterwelten" - Fotograf Michael Garke bringt Licht ins Dunkel (Foto: Michael Garke) "Nordhäuser Unterwelten" - Fotograf Michael Garke bringt Licht ins Dunkel (Foto: Michael Garke)

Michael Garkes Reise in den Untergrund begann vor etwas mehr als einem Jahr in allumfassender Dunkelheit. Der Fotograf, der den meisten Nordhäusern in seiner Rolle als Roland bekannt sein dürfte, hatte im August 2018 die Gelegenheit erhalten, einen Blick in die Keller unter, oder vielmehr hinter Mecklenburg's Hof zu werfen. „Die Ausmaße der Anlage waren riesig, das Licht der Taschenlampe hat nicht einmal bis zur nächsten Wand gereicht“, berichtet Garke. Die Keller der ehemaligen „Bergbrauerei“ ziehen sich über mehrere Etagen in den Hang hinein und hinauf, sodass man, wenn man die alten Lagerräume unter Tage betritt, mehrere Höhenmeter überwindet und ebenerdig wieder verlässt.

Die erste Etage wurde im zweiten Weltkrieg als Luftschutzkeller genutzt. Reste dieser baulichen Realitäten des zweiten Weltkrieges finden sich in manchem älteren Gemäuer bis heute, doch unter der Stadt verteilt sind immer noch einige weitaus größere Anlagen, etwa unter dem Neuen Weg oder am Gehege. Insgesamt wurden sechs öffentliche Luftschutzanlagen gebaut. Viele sind verschollen, verschüttet oder schlicht überbaut. Über den Tunneln in der Weberstraße etwa erhebt sich heute die Spitztreppe, die auf den Petersberg führt.

Doch der Nordhäuser Untergrund ist für manche Überraschung gut. Die jüngste fand sich im Sommer diesen Jahres unter dem Spendekirchhof. Das es hier eine Luftschutzanlage gegeben hatte wusste man, das sie nur notdürftig verfüllt wurde nicht. Wieder war Michael Garke mit Licht und Kamera dabei. Im Inneren fanden sich ein paar Haufen Erde, die wohl eher lustlos von den Nordhäusern hinabgekippt wurden, bevor die sowjetische Besatzungsmacht das Ganze als verfüllt abnahm und zu den Akten legte.

Michael Garke mit dem ersten Exemplar seines Buches (Foto: Angelo Glashagel) Michael Garke mit dem ersten Exemplar seines Buches (Foto: Angelo Glashagel) Auf dem kleinen Plateau soll eigentlich die Mensa für das Humboldt-Gymnasium entstehen. Ob das klappt, da hat Garke so seine Zweifel. „Einen 40-Tonner da rauf zu schicken ist keine gute Idee, der findet die Anlage in jedem Fall“, meint der Fotograf, die Betondecke des im Zickzack angelegten Ganges ist mit knapp 40 Zentimetern Dicke nicht gerade mächtig, eine Deckschicht aus Erde kaum noch vorhanden.

Der Eingang zu den Gängen ist, wie bei allen anderen Anlagen dieser Art im Stadtgebiet, wieder fest verschlossen. „Man kann da wirklich niemanden reinlassen, schon aus baulichen Gründen“, sagt der frisch gebackene Autor. Aus diesem Umstand heraus wuchs die Idee, den Leuten die sonst unzugänglichen aber gut erhaltenen Überbleibsel der Geschichte anderweitig erlebbar zu machen. Dazu muss man wissen das sich Michael Garke auf digitale Fotografien spezialisiert hat, die mittels Rundum-Kamera nicht nur als einfache Bilder, sondern als dreidimensionale 360-Grad Panoramen betrachtet werden können. Ein Bild besteht dabei aus bis zu 24 unterschiedlich belichteten Einzelaufnahmen, die übereinander gelegt werden.

Nach seinen ersten Ausflügen in die Unterwelt arbeitete Garke einen Vortrag aus, ergänzt durch eindrucksvolle Bilder und Hintergrundinformationen aus dem Archiv. Die Resonanz war „erschreckend“, sagt er, die zweistündigen Vorträge, die sonst nur das Nordhäuser Fachpublikum locken, füllten ein ums andere mal die Räumlichkeiten, erst in der Traditionsbrennerei, später auch im Tabakspeicher. „Das Thema ist faszinierend, vor allem weil man diese Sachen so noch nie gesehen hat und auch nicht herankommt. Das zieht sich durch alle Altersklassen“.

Viele Einträge im Buch enthalten rechteckige "QR-Codes", die mit dem passenden Programm per Handy gescannt werden können und die eindrucksvollen Aufnahmen auf dem Handy einsehbar machen. Das funktioniert auch bei den hier gezeigten Bildern und Dokumenten (Foto: Michael Garke) Viele Einträge im Buch enthalten rechteckige "QR-Codes", die mit dem passenden Programm per Handy gescannt werden können und die eindrucksvollen Aufnahmen auf dem Handy einsehbar machen. Das funktioniert auch bei den hier gezeigten Bildern und Dokumenten (Foto: Michael Garke)

Viele Einträge im Buch enthalten rechteckige "QR-Codes", die mit dem passenden Programm per Handy gescannt werden können und die eindrucksvollen Aufnahmen auf dem Handy einsehbar machen. Das funktioniert auch bei den hier gezeigten Bildern und Dokumenten.

Garkes nächste Station auf seiner Reise durch die Unterwelt war der Luftschutzstollen unter dem Neuen Weg. Um hier hereinzukommen, musste der Fotograf verschlungene Pfade gehen. In der Stadtverwaltung konnte man ihm nicht helfen, auch bei den ehemaligen Besitzern vom Schachtbau wusste niemand genaueres. Schließlich landete Garke bei der Kreissparkasse, die ihm die Erlaubnis gab, die alten Tunnel zu betreten. „Ich muss der Sparkasse einen ganz großen Dank aussprechen das sie mich da reingelassen haben. Wir haben den Eingang ordentlich geöffnet und nach unserer Erkundung wieder fest zugeschweißt, da kommt niemand rein“.

Die Gänge führen unter dem Neuen Weg bis zur Stadtmauer, ziehen sich unter dem Steinwall in beide Richtungen und reichen bis zur alten Freimaurer-Loge. Geplant war die Anlage mit einer Länge von rund 450 Metern und drei Zugängen, gebaut wurden knapp 270 Meter, begehbar sind heute rund 180 Meter. Ob auch ein in den Plänen klar erkennbarer Bunkerraum am Ende des Ganges fertiggestellt wurde und es eventuell eine Verbindung zum Logenkeller gab, ist unklar.

VIele Seiten verfügen über "QR-Codes" die per Handy ausgelesen werden können (Foto: Michael Garke) VIele Seiten verfügen über "QR-Codes" die per Handy ausgelesen werden können (Foto: Michael Garke) „Man hat den Leuten damals ein X für U vorgemacht, und die Bevölkerung glauben lassen, das es schon nicht so schlimm werde. Mit dem „demoralizing bombing“ der Briten, dem Flächenbombardement das den Willen der Bevölkerung brechen sollte, hatte keiner gerechnet. Ab 1943 macht sich dann langsam Panik breit, viele Anlagen sind nur provisorischer Natur. Die Leute auf dem Rähmen, also dem Petersberg etwa, hatten keine Chance. Fakt ist aber auch, dass die Anlagen und ordenlich abgestützte Keller vielen Leuten das Leben gerettet haben dürften, das ist die Quintessenz des Wahnsinns.“

Laut Augenzeugenberichten sollen sich unter dem Neuen Weg während der Bombardierungen etwa 1.000 bis 1.500 Leute gedrängt haben. Die Tunnel sind dabei nur zwei Meter breit wie hoch, verfügten lediglich über eine einfache Lüftung und zwei Eimer zur Verrichtung der Notdurft.

Mit den Geschehnissen vom 3. und 4. April 1945 endet die Geschichte der Anlagen nicht. Garke hat in den Archiven zahlreiche Dokumente zusammengetragen. Da finden sich penibel aufgelistete Rechnungen, Order aus Berlin wie das Reichsluftschutzgesetz von 1935 und Briefwechsel zwischen den Nordhäuser Verwaltungen, die einmal mehr zeigen, das sich manche Dinge scheinbar nie ändern. Dabei hat Garke auch manche Kuriosiät zu Tage gefördert. So hatten die Sowjets Befehl gegeben, die Anlagen am zu dieser Zeit noch eng bebauten Neuen Weg zu sprengen. Erst in letzter Minute konnte dem Kommandanten klar gemacht werden, dass eine Sprengung katastrophale Folgen haben könnte und den gesamten Hang mit sich nehmen würde. „Tag und Uhrzeit standen fest, der Befehl wurde erst wenige Stunden vor der Sprengung ausgesetzt“, berichtet Garke. Für die Bewohner am Neuen Weg hatte die Altlast dennoch folgen: mindestens zwei Erdfälle sollen auf das Konto der Tunnelanlage gehen.

Neben Panorama-Bildern und Luftaufnahmen finden sich im Buch auch Zeitdokumente wie Reichsbefehle und Baupläne (Foto: Michael Garke) Neben Panorama-Bildern und Luftaufnahmen finden sich im Buch auch Zeitdokumente wie Reichsbefehle und Baupläne (Foto: Michael Garke) Diese und viele andere Geschichten, Details und Hintergrundinformationen hat Michael Garke jetzt in einem Buch zusammengefasst, das auch auf die Panorama-Aufnahmen zurückgreift. Die moderne Technik macht's möglich. Mittels „QR-Code“ können viele Einträge im Buch per Handy gescannt und die dreidimensionalen Fotografien auf dem Telefon betrachtet und erkundet werden. Neben den Panoramen finden sich zudem einscannte Zeitdokumente sowie hochauflösende Luftaufnahmen der Royal Air Force. Die Verbindung geht vom Handy dabei nicht in die dunklen Tiefen des Internets, sonder via sicherer SSL-Verschlüsselung auf einen privaten Server, den Garke selbst betreibt. Das funktioniert im übrigen auch bei den hier gezeigten Bildern.

Wer selber einen Blick in das interaktive Buch werfen will, der muss sich noch ein klein wenig gedulden. Die offizielle Buchvorstellung von „Nordhäuser Unterwelten – Die vergessenen Bunker von Nordhausen“ findet am morgigen Donnerstag um 19 Uhr in der Traditionsbrennerei statt, eine weitere Veranstaltung zur selben Zeit und am selben Ort ist für den 1. Oktober vorgesehen.
Angelo Glashagel
Autor: red

Drucken ...
Alle Texte, Bilder und Grafiken dieser Web-Site unterliegen dem Urherberrechtsschutz.
© 2021 nnz-online.de