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Extinction Rebellion ruft zum Ungehorsam

Die Endzeit der Zivilisation

Dienstag, 10. September 2019, 14:10 Uhr
Verdorrte Felder, ganze Landstriche unbewohnbar, Konflikte, Krieg, Millionen Flüchtlinge und dann: das Ende der Zivilisation wie wir sie kennen. Die Klima-Aktivisten der "Extinction Rebellion" zeichneten am vergangenen Freitag das düstere Bild einer Zukunft, in der der Mensch dem Klimawandel nicht Einhalt geboten hat. Die gute Nachricht: noch sei Zeit, das schlimmste abzuwenden...

Vortrag im Lesesaal der Nordhäuser Stadtbibliothek (Foto: Angelo Glashagel) Vortrag im Lesesaal der Nordhäuser Stadtbibliothek (Foto: Angelo Glashagel)

Foto: TheDigitalArtist/pixabay.com

Die Meere voller Plastikmüll, das Grundwasser von Nitrat verseucht, in der Hitze verdurstende und brennende Wälder, Dürren hier, Überschwemmungen da, die See steigend Stück um Stück, gefüttert durch schmelzendes Eis aber zunehmend bar des Lebens und es wird wärmer, Jahr um Jahr. Das ist, kurz gefasst, der Status quo des Globus wie wir ihn aktuell erleben.

Und das ist erst der Anfang, befürchten Wissenschaftler und Klima-Aktivisten weltweit. Die Auswirkungen des Klimawandels beschäftigen die Politik zusehends, es gibt Papiere und Resolutionen, die der Entwicklung einen Riegel vorschieben sollen, wie das Pariser Klimaabkommen.

Genützt habe das alles bisher wenig bis gar nicht. Von dem anvisierten Ziel, die globale Erwärmung unter der Marke von 2,5 Grad Celsius zu halten, sei man meilenweit entfernt, kritisiert die "Extinction Rebellion" Bewegung. 2018 formierte sich die Protestgruppe in Großbritannien und ist inzwischen mit über 300 Ortsgruppen auf sechs Kontinenten aktiv. Auch in Nordhausen haben sich Unterstützer gefunden, die am vergangenen Freitag ihr Anliegen im Lesesaal der Stadtbibliothek an die Öffentlichkeit tragen wollten.

Die Endzeit der Zivilisation

Die "Extinction Rebellion", die "Rebellion gegen das Artensterben", sieht die Welt mitten im sechsten großen Massensterben der Erdgeschichte begriffen, diesmal nicht durch Meteoriten oder terrestrische Naturkatastrophen ausgelöst, sondern durch den Menschen. Und der drohe nicht nur seine Umwelt, sondern auch sich selbst zu vernichten, wenn man nicht radikalere Schritte einleitet. Mit den rechtlich nicht bindenden Maßnahmen, wie sie etwa im Pariser Klimaabkommen festgeschrieben sind, steuere man eher auf eine Erwärmung von 3 Grad Celsius zu, erklärt Rike, Physikerin und "ER"-Aktivistin aus Göttingen im Lesesaal. "Wir müssen die Erwärmung auf 1,5 Grad begrenzen und das in acht bis zehn Jahren. Mit der aktuellen Politik kommen wir nicht da hin, wo wir hin müssen. Lokal und individuell etwas zu ändern, anders zu essen, anders mobil zu sein, das reicht nicht mehr. Es braucht grundlegende Änderungen"

Aber was können ein paar Grad mehr oder weniger schon ausmachen? Sie könnten über Wohl und Wehe menschlichen Lebens auf dem Planeten entscheiden, meint man bei der "Extinction Rebellion". Verharre man in der bisherigen Trägheit, könnten "Kipp-Punkte" erreicht werden, an dem eine weitere Erwärmung nicht mehr aufzuhalten ist. "Nehmen sie die auftauenden Permafrostböden: die setzen Methan frei und das ist ein noch größerer Klimakiller als das CO2. Das passiert schon jetzt und früher als angenommen. Also wird es noch schneller noch wärmer, was weitere Folgen nach sich zieht", erklärt Aktivist Jan.

Jan und Rike engagieren sich bei "Extinction Rebellion" (Foto: Angelo Glashagel) Jan und Rike engagieren sich bei "Extinction Rebellion" (Foto: Angelo Glashagel)
Während die Welt weiter taut und schmilzt verstärken sich die Folgen. So steht zu befürchten das der "Eis-Albedo" Effekt, also die Abstrahlung von Sonnenlicht durch große Eisflächen, abnimmt. Wieder wird es wärmer, es taut noch mehr. Durch das einfließen der bis dato gefrorenen Festlandeises in die Meere hebt sich nicht nur deren Wasserspiegel, auch Salzkonzentration und Temperatur verändern sich, was wiederum Auswirkungen auf komplexe und ineinandergreifende Systeme wie zum Beispiel den "Jet-Stream" über dem Nordatlantik oder den Golfstrom hat, die maßgeblich für die Großwetterlage sind, auch und gerade in Europa. Nach und nach geriete das ganze globale System aus den Fugen. Die Folgen: unabsehbar.

"Der Klimawandel verläuft nicht linear sondern exponentiell. Bei einer Erwärmung vier Grad stirbt die Menschheit noch nicht aus, aber es könnte der Punkt sein, an dem die Klimakatastrophe nicht mehr durch Menschenhand aufzuhalten ist", erklärt Rike, bei sechs Grad würden weltweit Ökosysteme kollabieren und große Flächen für Tier und Mensch unbewohnbar, man bekäme ernsthafte Probleme mit der Nahrungsmittelproduktion, die Folge wären Flucht, Vertreibung und Krieg, vor denen man auch hierzulande nicht gefeit wäre.

Ihre Ausführungen stützen die junge Physikerin und ihr Kollege unter anderem auf die Prognosen des 1988 gegründeten Weltklimarates, dem "IPCC". "Das IPCC trägt die Ergebnisse tausender Wissenschaftler aus der ganzen Welt zusammen und übersetzt sie, damit sie von der politischen Ebene verstanden werden können. Und dem wissenschaftlichen Prozess sollte man vertrauen. Die Kritik, die hier gerne angebracht wird, bemängelt das man beim IPCC übertreiben würde. Wir denken das die Einschätzungen eher zu konservativ ausfallen. Das liegt vor allem am wissenschaftlichen Durchlauf der Forschung, der seine Zeit braucht und die jüngsten Entwicklungen nicht mit betrachten kann. Dass die Permafrostböden schon jetzt tauen und das Eis schneller schmilzt als bisher angenommen, zeigt das man das Ausmaß der Entwicklungen eher unterschätzt hat."

Ungehorsam, jetzt

Das Kernproblem der Gegenwart sei, das niemand sagen könne, wann die "Kipp-Punkte" erreichen werden, oder ob man sie vielleicht erst bemerkt, wenn es schon zu spät ist. Deswegen müsse man jetzt handeln und nicht erst im Jahr 2050, meinen die "Rebellen".

Das Rezept der "Extinction Rebellion" heißt Druck aufbauen durch zivilen Ungehorsam, friedlich und gewaltfrei. Die Grundlagen der Graswurzelbewegung speisen sich aus der wissenschaftlichen Analyse anderer, erfolgreicher sozialer Bewegungen wie der indischen Unabhängigkeitsbewegung unter Ghandi, der Bürgerrechtsbewegung unter Martin Luther King oder der friedlichen Revolution in der DDR. "Wir wollen gewaltfrei und respektvoll möglichst viele Teile der Gesellschaft erreichen. Jeder kann mitmachen auch wenn er oder sie nicht "grün" ist. Das Thema geht uns alle an, den Kohlekumpel genauso wie den Autobauer", erklärt Jan, es gehört zu den grundlegenden Statuten der "ER", niemanden abzuweisen, auszuschließen oder zu diskriminieren, solange sich die Person an den gleichen Grundsatz hält.

Mit den gewonnen Unterstützern will man in die Hauptstädte ziehen und dort über zivilen Ungehorsam Aufmerksamkeit schaffen und über "deutliche Störungen" Druck aufbauen. In London nahm das im vergangenen Jahr die Form von mehrtägigen Brücken-Blockaden an. Der wirtschaftliche Schaden, den man dadurch bewusst verursache, stehe in keinem Verhältnis zu dem, den man erwarten könne, wenn die Welt weiter untätig bleibe. Man will offen, authentisch auftreten, sich nicht verschleiern und vermummen. Wer mit auf die Straße geht, sollte auch bereit sein sich festnehmen zu lassen, sagen die Aktivisten.

Schritt zwei wäre die Ausrufung eines allgemeinen Klimanotstandes und zügiges handeln. Was genau technisch und wirtschaftlich getan werden kann und soll, das müssen zufällig gewählte Bürgerversammlungen erarbeiten, die von Experten beraten und geschult werden, so die Vorstellung der Aktivisten, die Legislative werde so auf den Bürger übertragen, dem übermäßigen Einfluss von Lobbyinteressen ein Riegel vorgeschoben.

Die nächsten großen Demonstrationen werden für 7. Oktober vorbereitet, ein Ziel heißt dann auch Berlin. Was die "Extinction Rebellion" dort erwarten könnte und wie man die Aktivisten auf der Straße auch Abseits des Asphalts unterstützen kann, darauf will die Nordhäuser Ortsgruppe vorbereiten und lädt immer Montags und Freitags zum "Revolutions-Café" in den Weltladen.
Angelo Glashagel
Autor: red

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