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Beobachtungen eines Nordhäusers

Vom Artensterben auf einem Acker

Mittwoch, 15. August 2018, 11:51 Uhr
Der Bürger weiß meist nicht, was auf die Äcker in seinem Umfeld an Chemikalien ausgebracht wird. Durch Nitrate im Grundwasser, Rückstände schädlicher Stoffe in unserer Nahrung, Insekten- und Vogelsterben zeichnen zahlreiche wissenschaftliche Studien ein problematisches Bild, meint Bodo Schwarzberg...

Der Begriff „Gülle“ ist für die meisten von uns gewiss nicht positiv besetzt. Den Satz, „Das ist doch Gülle.“, gebraucht so mancher Zeitgenosse, wenn er das noch brachialer erscheinende Wort „Sch….“ nicht gebrauchen möchte. Bodo Schwarzberg

Auch der Nordhäuser M. Steinbach verbindet mit dem Wort nichts Positives. Der Unternehmer gehört zu jener größer werdenden Gruppe von Menschen, denen die immer mehr um sich greifende Verschlechterung unserer Umweltsituation Angst macht.

Unmittelbar gegenüber seinem Haus in der Straße „Hinter der Steinmühle“ befindet sich ein rund neun Hektar großer Acker. Jahrelang erfreute er sich an den Insekten, Vögeln und Fledermäusen, die hier ausreichende Lebensbedingungen fanden.

Doch damit ist seit dem Frühjahr 2017 Schluss. Damals beobachtete er, wie ein landwirtschaftliches Fahrzeug das Feld mit einer Substanz besprühte. Steinbach ist sich sicher, dass es sich hierbei um ein hochgiftiges Pestizid handelte. Denn bereits am Abend desselben Tages sah er keine Singvögel und Fledermäuse mehr, die ja meist von Insekten leben. Bis heute sind die meisten nicht zurückgekehrt.

Und er suchte nach Antworten: Doch das, was er auf der Internetseite des Thüringer Landwirtschaftsministeriums fand, erzürnte ihn: Dort stünde zu lesen, dass die im Freistaat praktizierte Landwirtschaft zur Verbesserung der Gewässerqualität und zur Erhaltung der biologischen Vielfalt beiträgt. – Dass dies sachlich schlicht falsch ist, belegen zahlreiche Studien.

Der Bürger weiß meist nicht, was auf die Äcker in seinem Umfeld an Chemikalien ausgebracht wird. Durch Nitrate im Grundwasser, Rückstände schädlicher Stoffe in unserer Nahrung, Insekten- und Vogelsterben zeichnen zahlreiche wissenschaftliche Studien ein problematisches Bild der intensiven, vom globalen Markt abhängigen Landwirtschaft. (Foto: Bodo Schwarzberg) Der Bürger weiß meist nicht, was auf die Äcker in seinem Umfeld an Chemikalien ausgebracht wird. Durch Nitrate im Grundwasser, Rückstände schädlicher Stoffe in unserer Nahrung, Insekten- und Vogelsterben zeichnen zahlreiche wissenschaftliche Studien ein problematisches Bild der intensiven, vom globalen Markt abhängigen Landwirtschaft. (Foto: Bodo Schwarzberg)

Der Bürger weiß meist nicht, was auf die Äcker in seinem Umfeld an Chemikalien ausgebracht wird. Durch Nitrate im Grundwasser, Rückstände schädlicher Stoffe in unserer Nahrung, Insekten- und Vogelsterben zeichnen zahlreiche wissenschaftliche Studien ein problematisches Bild der intensiven, vom globalen Markt abhängigen Landwirtschaft.

Zwar sah er später wieder einige Fledermäuse, jedoch wiederholte sich das Schreckensszenario im Frühjahr 2018: Wieder wurden Agrochemikalien versprüht und wieder waren die noch anwesenden Tiere wie vom Erdboden verschluckt.

Das Fass zum Überlaufen brachte für Steinbach jedoch die Gülle, deren Ausbringung er wenig später, am 2. Mai 2018, beobachtete. „Das waren Unmengen. Von früh bis nachmittags wurden ständig Güllekessel angefahren. Ich sehe darin eine Entsorgung von Sondermüll“, sagt er.

Doch was eigentlich ist Gülle?

Gülle ist ein Wirtschaftsdünger aus dem Kot und dem Urin von Schweinen und Rindern, der zu rund fünf Prozent aus Trockensubstanz besteht. Der Gesamtstickstoffgehalt beträgt ca. fünf Kilogramm pro Kubikmeter Gülle.

In den Medien und Fachmagazinen häufen sich berechtigterweise die Negativberichte u.a. über Gülle: „Der stille Frühling wird erneut Realität“ (www.spektrum.de), „Gülle verklebt das Gefieder“ (www.mainpost.de), oder „Greenpeace findet multiresistente Keime und Antibiotikareste in Gülle“ (www.aerzteblatt.de)

Laut Düngeverordnung dürfen pro Hektar und Jahr maximal 170 Kilo Stickstoff ausgebracht werden. Der von Herrn Steinbach beobachtete Acker umfasst etwa 9 Hektar. Die von ihm am 2.5.2018 beobachtete Ausbringung von 14 Kesseln á 21 Kubikmeter Gülle entspricht bei einem Stickstoffgehalt von 5 Kilo pro Kubikmeter 1.470 Kilogramm Stickstoff. Auf 9 Hektar verteilt käme pro Hektar tatsächlich ungefähr der maximal pro Jahr zulässige Wert von 170 Kilo Stickstoff pro Hektar heraus. Allerdings berichtet Herr Steinbach davon, dass er die Vorgänge auf dem Acker an jenem Tag nicht ständig beobachten konnte. Er hält es daher für möglich, dass mehr als 14 Kessel Gülle ausgebracht worden sein könnten. Zudem steht die Frage im Raum, ob der zuständige Betrieb in diesem Jahr nicht ein weiteres Mal Gülle ausbringen wird. Das wäre dann eventuell ein Verstoß gegen die Düngeverordnung.

Nach der aktuellen Düngeverordnung sind die Landwirte zudem verpflichtet, eine Düngebedarfsermittlung anzustellen.

Kritiker halten die Düngeverordnung für einen Kniefall vor der Agrarlobby. Sie kritisieren, dass es durch sie nicht zu einem Rückgang der Umweltprobleme wie der Stickstoffbelastung des Grundwassers und des Artensterbens kommen kann.

Fakt ist, dass die EU-Kommission die Bundesrepublik 2016 wegen Verstoßes gegen die Nitratrichtlinie und die Wasserrahmenrichtlinie verklagt hat. Und sie bekam Recht.

Folgen der Überdüngung

Derweil zeigen sich die negativen Folgen der Überdüngung unserer Äcker und Wiesen tatsächlich in einem Rückgang vieler Pflanzen- und Tierarten. Durch das hohe Stickstoffangebot werden einige wenige nährstoffliebende Pflanzenarten gefördert, während zahlreiche andere in unserer Landschaft verschwinden, die an nährstoffarme Verhältnisse angepasst sind. Sie werden von den konkurrenzstarken Stickstoffzeigern verdrängt. Die meisten Pflanzenarten unserer Roten Listen gefährdeter Arten sind an nährstoffarme Verhältnisse angepasste Pflanzenarten. Haben wir jedoch immer weniger blühende Pflanzen, nimmt auch die Zahl der Insekten ab und in der Folge die Zahl der Singvögel, die überwiegend von Insekten leben. Das deckt sich mit M. Steinbachs Beobachtungen.

Für Deutschland liegen alarmierende Zahlen vor: Um 75 bis 80 Prozent hat die Biomasse fliegender Insekten in den vergangenen 27 Jahren abgenommen. Die Daten basieren auf Messungen aus 63 Naturschutzgebieten in drei Bundesländern (www.wdr.de). Dabei wird zu viel Stickstoff als Ausdruck unserer industriell betriebenen Intensivlandwirtschaft von den Experten explizit als eine Rückgangsursache benannt. – Und natürlich insektenvernichtende Pestizide, etwa die berüchtigten Neonicotinoide, die nicht nur von Schadinsekten beim Fressen an Pflanzen aufgenommen werden. Zumindest wurden drei Stoffe aus dieser Wirkstoffklasse vor kurzem verboten.

Katastrophal auch der Rückgang der Vögel als eine Folge von Überdüngung und Pestizideinsatz: In landwirtschaftlichen Gebieten der EU sank die Zahl der Vögel in wenigen Jahrzehnten um 300 Mio. Tiere, was einem Verlust von 57 Prozent entspricht. https://www.sueddeutsche.de/wissen/artenvielfalt-deutschland-sterben-die-voegel-weg-1.3490817.

Haben Sie in den letzten Jahren noch regelmäßig Feldlerchen über unseren Äckern singen hören? Selbst Allerweltsvögel werden zunehmend zur Rarität. Rachel Carsons Bestseller „Der stumme Frühling“ aus den 60er Jahren ist in der Wirklichkeit angekommen.

Unternehmer Steinbach hat Beobachtungen angestellt, die sich mit zahlreichen Forschungsergebnissen decken. Zwar dürfte der plötzliche Rückgang von Tierarten innerhalb von Stunden wohl eher nicht unmittelbar mit den hier beschriebenen Faktoren zu tun haben, der Trend jedoch, von dem er spricht, ist unverkennbar, und das, was die Politik tut, ist, wie so oft im Umweltbereich, zu wenig. Langfristig aber werden die Kosten dieser Nachlässigkeiten die kurzfristigen Gewinne übersteigen: Schon heute gehen die Verluste an Bestäubungsleistungen durch die Insekten an Kulturpflanzen weltweit in die Milliarden. Ähnliches ist von den Resistenzen von immer mehr Keimen gegenüber Antibiotika zu berichten: Denn letztere gelangen u.a. über die Gülle in unsere Umwelt, und die Medizin steht zunehmend hilflos einst gut zu bekämpfenden Infektionskrankheiten gegenüber.

Die Reihe ließe sich fortsetzen. Ein Umdenken und Umsteuern in der Landwirtschaft würde am Ende uns allen zugute kommen, ökologisch und unter dem Strich, wie sich immer mehr herausstellt, auch ökonomisch.
Bodo Schwarzberg
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Autor: red

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