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Bisher keine Entschädigung für Zwangsumgesiedelte

Wer an der Grenze wohnte, galt als Ungeziefer

Sonnabend, 14. April 2018, 09:45 Uhr
Bis heute sind Vertriebene aus dem Sperrgebiet an der ehemaligen Zonengrenze im Landkreis Nordhausen nicht entschädigt worden. Im Juni 1952 wurden 143 Familien mit 521 Personen vom SED-Regime zwangsumgesiedelt. Manfred Neuber berichtet...


In einer Nacht-und-Nebel-Aktion mussten Bauern, Landarbeiter und kleine Gewerbetreibende ihre Heimat verlassen. Unter dem menschenverachtenden Decknamen „Ungeziefer“ wurden sie in den Kreis Sömmerda und in den Raum Neustrelitz (Mecklenburg) verfrachtet.

Die Räumung des fünf Kilometer breiten Sperrgebietes geschah nach einer Verordnung der DDR-Regierung über die Einrichtung einer Sperrzone entlang der Demarkationslinie,um – so die offizielle Begründung – das Eindringen von „Diversanten, Spionen, Terroristen und Schädlingen in die DDR zu verhindern“. Tatsächlich sollte die Flucht von Bürgern aus dem Unrechtsstaat, der ihnen die Reisefreiheit verwehrte, in den Westen verhindert werden. Mit einer Polizei-Verordnung wurde ein strenges „Grenzregime“ zur „Säuberung“ des Sperrgebietes von „unzuverlässigen Personen“ eingeführt.

Als die Familien und einzelnen Personen am Abend des 6. Juni 1952 von ihrer für den nächsten Tag vorgesehenen „Umsiedlung“ erfuhren, flüchteten 19 von ihnen – jeweils sechs aus Mackenrode und Ellrich, jeweils zwei aus Rothesütte, Beneckenstein und Jützenbach (Eichsfeld) und eine Familie aus Sülzhayn. In den Kreis Neustrelitz wurde eine Gruppe von 13 bäuerlichen Familien verbannt. Unter den Landwirten war ein Großbauer mit einem Hof von mehr als 50 Hektar Nutzungsfläche, zwei weitere mit über 20 Hektar, die Mehrzahl der bewirtschafteten Höfe unter zehn Hektar.

„Die Aktion ‚Ungeziefer’ war keine Initiative der Stasi oder der Polizei, sondern sie lief im Auftrag und unter Kontrolle der SED“ mit Unterstützung durch die Kampfgruppen aus den Betrieben, ermittelte Dr. Hanna Labrenz-Weiß in ihrer wissenschaftlichen Dokumentation für die Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR.

„Die Bevölkerung sollte auch mithilfe entsprechender ‚Gehirnwäsche’ der SED-Propaganda davon überzeugt werden, dass die Zwangsumsiedlung sie vor Feinden schützen würde“, stellte sie fest. Die Bewohner in den Grenzgemeinden hinter dem Sperrgebiet sollten gemeinsam mit der Volkspolizei „den Schutz ihres Dorfes“ übernehmen. Mit dem Ausbau der Grenzposten und der Errichtung der ersten Sperranlagen wurde die „grüne Grenze“ zwischen West- und Mitteldeutschland geschlossen und der vorher noch mögliche kleine Grenzverkehr unterbunden. Für Jahrzehnte blieben Familien und Verwandte, Freunde und einstige Nachbarn in Grenzorten voneinander getrennt.

Nach dem Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 wurde die Abriegelung der Grenze verschärft und die zweite Vertreibung in Gang gesetzt. Unter der Parole „Kornblume“ waren im Kreis Nordhausen 98 Personen erfasst worden; von ihnen wurden schließlich dreißig zwangsumgesiedelt. Anders als im Juni 1952 wurden die Betroffenen nicht am Vorabend über ihr Schicksal informiert, um Fluchten zu vereiteln. Eine Stunde vor Beginn der Aktion wurden acht Personen in Ellrich abgefangen, die mit einem Zug zur Arbeit in Nordhausen fahren wollten. Andere wurden um 5.45 Uhr aus den Betten gerissen, so dass sie keinen Widerstand leisten konnten.

An Zynismus nicht zu überbieten war der Schlusssatz der Begründung, der ihnen vorgelesen wurde: „Obwohl ein Wechsel des Wohnortes natürlicherweise von gewissen Beschwernissen begleitet ist, hoffen wir, dass Sie Verständnis für diese Maßnahme aufbringen und uns helfen, in Ihrem eigenen Interesse alles Erforderliche schnell und reibungslos durchzuführen.“ „Reibungslos“ bedeutete, dass die Vertriebenen ihre Wohnung nicht mehr verlassen durften und auf die Fahrzeuge für ihren Abtransport warten mussten.

Sie durften nicht einmal ihre Sachen selbst einpacken; das übernahmen Angehörige der Kampfgruppen. Ohne Vorwarnung landeten sie in einer völlig fremden, oft sehr ärmlichen Gegend der DDR. Mit Ausnahme der Zwangsumsiedler aus Klettenberg verließen alle betroffenen Personen das Kreisgebiet in den frühen Nachmittagsstunden. In Klettenberg kam es zu Verzögerungen, weil sich dort zwei Einwohner meldeten, die den Ort freiwillig verlassen wollten. Dafür benötigten sie die Genehmigung der Einsatzleitung in Erfurt, die zwei Stunden später eintraf.

„Die Einschüchterung der Bevölkerung war offensichtlich so groß, dass niemand sich traute, gegen die Aktion vorzugehen. Die Einsatzleitung wertete dieses Verhalten als ‚diszipliniert’ und sprach sogar davon, dass es eine Reihe von Zustimmungen zum Wohnungswechsel gab.“
Die verlassenen Gebäude und Gehöfte wurden anschließend geschätzt, über das Inventar und das Vieh eine Übersicht erstellt. Die Schlüssel der geräumten Wohnungen zog die Grenzpolizei ein. Einen Tag nach der Vertreibung fanden in allen Gemeinden des Sperrgebietes öffentliche Versammlungen statt, weil große Unruhe über mögliche weitere Umsiedlungen herrschte.

In einem Rapport der Kreiseinsatzleitung Nordhausen wurde über Sicherungs- und Räumkommandos berichtet, aber auch über verzweifelte Menschen, die entweder flüchteten, zu fliehen versuchten oder ihre Wohnungen nicht verlassen wollten. In Mackenrode legte sich ein Bauer in seinen Pferdestall; zwei andere Einwohner wurden festgenommen, weil sie vor der Aktion warnten.

„Eher nehme ich mit meinen Kindern Gift, als dass ich wieder umziehe“, soll eine Frau in Mackenrode wütend erklärt haben. „1947 haben uns die Polacken rausgeworfen, und heute kommt ihr und vertreibt uns!“ In Branderode soll eine Heimatvertriebene ihre Angehörigen, die sich aufhängen wollten, von der „Notwendigkeit“ der Umsiedlung überzeugt haben. Diesmal gebe es aber eine „humane Vorgehensweise“.

Im Umfeld der Zwangsumsiedlungen kam es zu Denunziationen und Schadenfreude. So in Mauderode, wo die Einwohner die Aussiedlung des Leiters der Konsum-Verkaufsstelle forderten, weil er angeblich Fleisch, Wurst und Schokolade veruntreute. In Ellrich prangerte ein Schulrektor einen früheren Lehrer an, weil dessen Vater Nazi gewesen sei. Seine Aussiedlung solle „nachgeholt werden“. Ein Beispiel von Sippenhaft gab es in Branderode, weil der Sohn Heinz der Bauernfamilie Stülzebach eine Woche vor der Umsiedlungsaktion in den Westen gegangen war, mussten die Eltern ihren Hof verlassen, obwohl sie beteuerten, von der Flucht nichts gewusst zu haben. Der Sohn war Vorsitzender der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Unter einer Mistfuhre brachte er Frau und Kinder über die Grenze, da er die Grenzposten unverdächtig passieren konnte.

Ein LPG-Mitglied zürnte: „Seine ruchlose Tat ist für alle Branderöder nur Anlass, sich noch fester zusammenzuschließen und ihr sozialistisches Dorf aufblühen zu lassen. . . Je besser wir im Kollektiv arbeiten, desto empfindlichere Schläge versetzten wir Adenauer, Atom-Strauß und Konsorten.“ Im Dorf sollten sofort alle Westkanäle aus den Fernsehern entfernt werden. Von den generalstabsmäßig durchgeführten Operationen entlang der innerdeutschen Grenze sind mehr als 12 000 Personen betroffen worden. „Wir wurden auf Güterwagen der Bahn wie Vieh verladen, Zielort unbekannt“, erinnert sich eine Vertriebene. Schätzungsweise 3 000 Personen entgingen der Zwangsumsiedlung durch Flucht in den Westen. An den neuen Wohnorten wurde verbreitetet, bei den Ankömmlingen handele es sich um Kriminelle.

Im Unterschied zu politischen Haftopfern und Dopingopfern der DDR sind die Zwangsumgesiedelten nie entschädigt worden. Initiativen auf politischer Ebene, die daran etwas ändern wollen, sind bisher im Sande verlaufen. Einen neuen Vorstoß haben jetzt Wolfgang Clement, ehemaliger Bundesminister, und Jürgen Aretz, früher Staatssekretär, unternommen. Beide fordern eine Stiftung, die in Verbindung mit den Landesbeauftragten für die Aufarbeitung des SED-Unrechts eine systematische dokumentarische Erfassung vornimmt, durch Befragungen, Suche nach privaten Erinnerungsstücken, Dokumentensicherung, und Archivarbeiten in Zusammenarbeit mit Heimatforschern und kirchlichen Stellen, wissenschaftlichen Projekten unter Einbeziehung Betroffener.

„Die Wiedervereinigung liegt inzwischen eine Generation zurück. Die Mauer ist ebenso lange wieder geöffnet, wie sie zuvor die Menschen in Ost-Berlin eingesperrt hat. Die Erinnerung an die damaligen Geschehnisse verblasst immer mehr. Dem gilt es entgegen zu wirken und auch, ganz konkret, dem Schicksal der Zwangsausgesiedelten gerecht zu werden“, meint Wolfgang Clement. „Vielleicht könnte die Initiative dazu von den Landtagspräsidenten der neuen Länder ausgehen.“ Manfred Neuber
Autor: red

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