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Versorgungsmängel im Kreis Nordhausen vor der Wende

Bonzen sollten leere Regale sehen

Sonnabend, 10. Februar 2018, 12:20 Uhr
„Die in den Massenmedien der DDR täglich verbreiteten Erfolgsmeldungen hätten längst zum Schlaraffenland führen müssen“, spotteten Bleicheröder Hausfrauen im 40. Jahr der DDR mit Mangelerscheinungen. Ein Blick hinter Kulissen der sozialistischen Planwirtschaft...


„Die Verantwortlichen sollten sich mal Einkaufsbeutel von ihren Frauen geben lassen und selbst versuchen, die Versorgung der Familie zu sichern. Dann würden sie merken, wie es in den Geschäften wirklich aussieht...
und warum so viele DDR-Bürger das Land verlassen“, schrieben sie in einer mutigen Eingabe.

„Untergang auf Raten“ ist das Kapitel überschrieben, in dem die wirtschaftlichen Missstände im Kreis Nordhausen vor der Wende 1989 aufgelistet sind. Hanna Labrenz-Weiß schildert in ihrer wissenschaftlichen Dokumentation über die Stasi im Kreis Nordhausen, wie es in den letzten Jahren der DDR nur noch um Schadensbegrenzung in der Wirtschaft ging. Das habe zu Überdruss und Protesten in der Bevölkerung geführt.

„Große Unzufriedenheit herrschte im Gesundheitswesen, wo eine medizinische Grundversorgung nicht zuletzt aufgrund der fehlenden Medikamente nicht garantiert werden konnte“, erinnert die Autorin. „In dem Durcheinander sozialistischer Wirtschaftsleitung und ihren willkürlichen Entscheidungen von oben“, so wird ein hoher Stasi-Offizier zitiert, seien „irgendwelche Sabotage- und Diversionstätigkeit kaum zu erkennen und nachzuweisen“.

Die Möglichkeit, notwendige Veränderungen „anzuschieben“, sei daran gescheitert, dass „allein die jeweilige Parteispitze mit ihrem mehr oder weniger ausgeprägten Herrschafts- und Unfehlbarkeitsanspruch das Sagen hatte. . . und nicht etwa das sachlich und fachlich zuständige Organ, wie zum Beispiel der Rat des Kreises, von den örtlichen Volksvertretungen als der Legislative ganz zu schweigen“. So sei es zu „wachsendem Widerstand“ gekommen.

Kritische Äußerungen beschränkten sich nicht nur auf die Versorgungslage, sondern betrafen auch die manipulierte Berichterstattung über die Flüchtlinge aus der DDR und weil „die SED weiter so täte, als ob es keinerlei Probleme in der DDR gäbe“. Um Ausreiseanträge mit der Begründung Wohnungsmangel“
abzuwehren, ließ die MfS-Kreistelle Nordhausen leer stehende Wohnungen von Flüchtlingen vergeben. Wer einen solchen Ausreiseantrag stellte, kam schneller zu einem Heim im Neubau.

In der Landwirtschaft drohte eine „Abwanderung der Arbeitskräfte“ wegen Unzufriedenheit mit dem relativ geringen Lohn. In vielen LPG seien während der Erntezeit die Räume unverschlossen geblieben. Das habe in der LPG Hermannsacker am 30. Juli 1989 zu einem Brand mit 120 000 Mark Schaden geführt. Trotz Rauchverbots sei vielerorts eine sorglose Lagerung und Nichteinhaltung der Brandschutz-Bestimmungen geschehen. Über ernste Mängel wurde in der Milchviehanlage Wipperdorf berichtet. Beim Füttern und Melken habe Unpünktlichkeit geherrscht. Die Anlage sei verdreckt gewesen, und Futter mangelnder Qualität habe zur Erkrankung des Tierbestands geführt.

Im Betrieb Nordhausen des VEB Fleischkombinats Erfurt seien „unzulässige hygienische Zustände“ festgestellt worden, weil das Heizkraftwerk wegen Renovierung abgeschaltet wurde.Unsauberkeit habe tägliche Reklamationen ausgelöst. Hoher Alkoholkonsum verursachte zwei schwere Arbeitsunfälle. Im VEB IFA Motorenwerke mussten im Juli 1989 wegen Planrückständen infolge fehlender Produktionsarbeiter häufig Angestellte aus der Verwaltung eingesetzt werden. Der Rückstand in der Warenproduktion belief sich auf zwölf Millionen Mark und betraf 263 6 VD Motore und 192 4 VD Motore. Es fehlten Ersatzteile bei importierten Maschinen. Und jedes zweite aus Leipzig gelieferte Gehäuse entsprach nicht den Normen. Die Arbeiter lehnten das angeordnete Drei-Schicht-System und Arbeit am Wochenende ab.

Die MfS-Kreisdienststelle analysierte laufend die Meinungsäußerungen der Bevölkerung, so zu möglichen Veränderungen im Reiseverkehr nach Ungarn, zur etwaigen Aufhebung des Sperrgebietes an der innerdeutschen Grenze und über so banale Dinge wie die Öffnungszeiten des Konsums. Viele Berufstätige waren verärgert, weil sie ihre Einkäufe während der Arbeitszeit erledigen mussten. Im Raum Bleicherode wurde Unmut darüber laut, da die Grundversorgung mit Getränken, Fleisch und Fisch nicht gewährleistet war.

Bezeichnend für die Missstände waren auch die Unzulänglichkeiten bei der Neueröffnung der Gaststätte „Gutshof“ am Jahrestag der DDR-Gründung. Die Innenausstattung, die Küchenausrüstung, Kühlschränke und vieles mehr kam erst kurz vor dem Termin. Für das Personal fehlten Umkleidekabinen und eine Dusche. Als Personal standen nur ein Koch und eine Wirtschaftshilfe zur Verfügung. Obendrein wartete man vergeblich auf einen Telefonanschluss.

In der Kaliindustrie im Kreis Nordhausen traten im August 1989 schwere Probleme auf. Wegen Umstrukturierungen in Bleicherode fürchteten viele Arbeiter, wie Dr. Labrenz-Weiß berichtet, um ihren Arbeitsplatz. Leitende Mitarbeiter und junge Leuten seien deshalb abgesprungen. In Parteiversammlungen wurde argumentiert, dass der Lohn aufgrund der schweren und gefährlichen Arbeit im Vergleich zu anderen Industrien zu niedrig sei.

„Hier ist das Streikkomitee Ernst Thälmann“, meldete sich ein anonymer Anrufer im VEB Kalibetrieb Sollstedt. Davon sah sich die Betriebsgewerkschaftsleitung bedroht und schaltete die Stasi zur Fahndung ein. Der KD Nordhausen war freilich die Stimmung unter den Kalikumpeln bekannt. In scharfen Diskussionen hatten sie sich über den Mangel an Obst und Gemüse empört und erklärt, „Beschwichtigungen (würden) nicht mehr akzeptiert“. Bei der Belegschaft des VEB Fernmeldewerk kam vor der Kommunalwahl eine „negative Stimmung“ auf, weil Ost-Berlin den Direktor des Kombinats Nachrichtenelektronik angewiesen hatte, 50 000 Telefone im Wert von einer Million DM an eine Hamburger Firma zu liefern, die sie nach Indonesien und Mauritius weiter exportierte. Dem Fernmeldewerk Nordhausen sei dadurch ein Schaden von fünf Millionen Mark entstanden – und Unzufriedenheit in der Bevölkerung wegen fehlender Apparate.
Manfred Neuber
Autor: red

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