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Mehr Selbstorganisation unter Migranten

Selbst ist der Mensch

Freitag, 10. Februar 2017, 13:20 Uhr
Gib einem Mann einen Fisch und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre einen Mann zu fischen und du ernährst ihn für sein Leben - das Mantra von der Hilfe zur Selbsthilfe gab es schon im alten China und ist auch dieser Tage ein gern gebrauchtes Argument. Wem immer nur geholfen wird, der verlernt sich selbst zu helfen. Das gilt auch im System der Flüchtlingshilfe. Ein Nordhäuser Projekt will deswegen jetzt für mehr Selbstorganisation unter Migranten eintreten...

Mehr Selbstorganisation unter Migranten in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel) Mehr Selbstorganisation unter Migranten in Nordhausen (Foto: Angelo Glashagel)

Über den Zustand des sozialen Staates mag man geteilter Meinung sein, geholfen wurde und wird in Deutschland immer noch vielen Menschen, auch Migranten und Flüchtlingen. Dabei muss gut gemeint nicht immer auch gut gemacht sein.

Das Hilfesystem in Deutschland erziehe zur Untätigkeit, meint Sara Müller. Die Sozialarbeiterin ist im Horizont Verein vor allem mit Projekten zur Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen beschäftigt und kennt die Materie in ihrer ganzen Vielschichtigkeit. Eine Woche lang hat sie selbst die katastrophalen Umstände an der Außengrenze der EU in Serbien verbracht und versucht die schlimmste Not ein wenig zu lindern, zurück in der Heimat erleben sie und ihre Kollegen die Alltagssorgen derjenigen, die es nach Europa geschafft haben.

An der Grenze können viele Geflüchtete nichts tun, in Deutschland dürfen sie vielfach nicht viel tun. Das gehe schon in der Erstaufnahme los, erzählt Müller, "sie dürfen weder selber kochen noch selber ihr Zimmer aufräumen. Das wird auch in manchen Gemeinschaftsunterkünften so oder so ähnlich gehandhabt. Es gibt Einrichtungen die schreiben vor wann die Leute, erwachsene Menschen, zu Hause zu sein haben. Wer es nach Deutschland schafft, der kommt in einem sehr stark durchstrukturiertem System an und in diesen Strukturen werden sie, auch wegen der Sprachbarriere, völlig eingebettet werden". Integration bedeute auch Teilhabe, die Möglichkeit selber zu gestalten. "Wenn ich nur im System hin- und hergereicht werde, von einem Kurs zum nächsten, nehme ich nicht daran teil, jemand anderes lässt mich teilnehmen."

Sara Müller: Integration heißt auch Partizipation (Foto: Angelo Glashagel) Sara Müller: Integration heißt auch Partizipation (Foto: Angelo Glashagel) Sara Müller und ihre Kollegen wollen jetzt einen anderen Weg gehen, in kleinen Schritten. "Wir haben viele Leute bei uns die gesagt haben, dass sie gerne Instrumente spielen oder zeichnen, dass sie Theater mögen oder gerne Karten spielen", erzählt die Sozialarbeiterin, entsprechende Kleinstprojekte die derlei Möglichkeiten bieten gebe es zwar vereinzelt immer wieder, die seien jedoch häufig "typisch deutsch" aufgezogen und würden mit einem frontalen Lehrauftrag verbunden. Man kann sich treffen, spricht dann aber bitte auch über Verkehrsschulung und Mülltrennung. "Die Geflüchteten brauchen Hilfe bei der Arbeits- und Wohungssuche oder bei Amtsangelegenheiten, das erleben wir hier jeden Tag, sie sagen uns aber auch, dass sie gerne einen Ort zum Austausch hätten ohne das im Hintergrund der Zwang zum Untericht steht", erläutert Müller.

Den Rahmen dafür wollen die Sozialarbeiter jetzt geben, unter minimalen Vorgaben. "Wir haben einen interkulturellen Nachmittag ins Leben gerufen und der wurde bisher gut angenommen. Das ganze ist sehr offen und niederschwellig angelegt, wir geben nur den Anstoß, den Rest sollen die Geflüchteten selber organisieren." Die Themen würden sich von ganz alleine ergeben, es gehe viel um den Krieg, die Situation an den Grenzen und um das, was in der Türkei geschieht oder auch wie sich die Gesetzeslage in Deutschland ändert, berichtet Müller.

Dass Afghanen, Syrer und Iraker zusammen sitzen und sich unterhalten ist dabei alles andere als eine Selbstverständlichkeit, so Sozialarbeiterin weiter, Rassismus sei auch unter Geflüchteten weit verbreitet, was nicht selten auch zu Problemen innerhalb der Unterkünfte führe. Ein Syrer mag den Afghanen, ein Iraki den Syrer nicht und alle drei haben etwas gegen den Afrikaner. Deswegen von vornherein nach Nationen zu separieren sei der falsche Weg, ist Müller überzeugt. "Auch kulturelle Vielfalt muss gelernt werden, wir können die Leute nicht in ihren Vorurteilen belassen wenn sie Teil einer Gesellschaft werden sollen, die auf dem Grundsatz der Gleichheit der Menschen fußt."

Dass das funktionieren kann zeigt eine Frauengruppe, die ehrenamtlich von zwei ehemaligen Lehrerinnen geleitet wird und sich regelmäßig im Mehrgenerationenhaus trifft. Das funktioniere bestens, von Anfang an - Länderübergreifende und interkulturelle Kommunikation wie sie gedacht ist. Das will das Team um Sara Müller nun auch auf ein breiteres Publikum übertragen. Auf Arabisch, Farsi, Tigrinisch, Englisch und Deutsch hat man für kommenden Donnerstag zu einem gemeinsamen Treffen in das Mehrgenerationenhaus eingeladen. Die Veranstaltung spricht vor allem kreative Köpfe an, wenn es mit der Selbstorganisation klappt, dann könnte Gruppen wie eine Band, ein Theatertrupp oder vielleicht sogar einmal ein kleiner Verein entstehen.

"Wir werden mit viel Power da rein gehen", verspricht Müller, "was daraus wird, liegt in der Hand der Leute, anleiten werden wir sie nicht, das müssen sie selber machen".
Angelo Glashagel
Autor: red

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