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Anspruch scheitert an der Wirklichkeit

Montag, 18. Mai 2015, 16:03 Uhr
Heute Vormittag stellte der tlv thüringer lehrerverband die Ergebnisse der von ihm mit in Auftrag gegebenen ersten repräsentativen Umfrage unter Lehrern zum Thema Inklusion vor – und zeichnete damit ein verheerendes Bild von der Wirklichkeit an Deutschlands Schulen...


„Die Probleme, die wir seit Jahren an unsere Landesregierungen herantragen, haben sich in erschreckender Weise bestätigt und erfordern jetzt umso dringender ein Handeln der Verantwortlichen“, fasste Rolf Busch, Landesvorsitzender des tlv, die Ergebnisse zusammen.

Bei der im Auftrag des VBE vom forsa-Institut erhobenen Studie wurden im Frühjahr dieses Jahres mehr als 1000 Lehrerinnen und Lehrer deutschlandweit zu ihren Erwartungen an den und Erfahrungen mit dem Gemeinsamen Unterricht befragt. Dabei zeigten sich bei allen Schulformen gravierende Differenzen zwischen dem, was laut der UN-Behindertenrechtskonvention gefordert und auch von den Pädagogen gewünscht wird, und den tatsächlichen Gegebenheiten.

Deutlich mehr als die Hälfte aller Lehrer (57%) befürworten die Inklusion an den Schulen – trotz allem, wie man beim weiteren Betrachten der Umfrageergebnisse feststellt, denn die Bedingungen für den Gemeinsamen Unterricht sind katastrophal: Während 98% die Doppelbesetzung aus Lehrer und Sonderpädagoge in den inklusiven Klassen für unabdingbar halten (davon 88% als permanente Doppelbesetzung), geben nur 19% an, dass diese in ihrem Bundesland schulrechtlich vorgesehen ist.

Und von diesem knappen Fünftel bestätigten wiederum 73%, dass die Doppelbesetzung nur zeitweise vorgeschrieben ist. Bei 65% der befragten Lehrer unterrichtet in den inklusiven Klassen für gewöhnlich nur eine Person. Gleichzeitig gaben fast ein Fünftel (18%) an, auch für die eventuell notwendige Gabe von Medikamenten verantwortlich zu sein.

Auch im Hinblick auf die Vorbereitung und Begleitung der Lehrer, die im Gemeinsamen Unterricht eingesetzt werden, zeigen sich erhebliche Mängel. Mehr als ein Drittel (36%) nannten die Weiterbildungsangebote „gar nicht gut“. 55% hatten nur wenige Wochen Zeit, sich auf ihren Einsatz in einer inklusiven Klasse vorzubereiten, und mit 33% wurde weder vonseiten der Schulleitung noch im Kollegium ein vorbereitendes Gespräch geführt. Insgesamt starteten 32% in den Gemeinsamen Unterricht, ohne vorher entsprechende Erfahrungen gesammelt zu haben.

Was die räumliche Ausstattung der Schulen angeht, sieht es nicht viel besser aus: Mehr als die Hälfte (52%) aller Schulen sind überhaupt nicht barrierefrei. Räume für Kleingruppen und Differenzierungsräume gibt es nur an 55% bzw. 54% der Schulen. In fast zwei Dritteln (65%) der Fälle wurde die Klassenstärke bei der Umwandlung in eine inklusive Klasse beibehalten, bei 4% sogar erhöht.

Der Landesvorsitzender des tlv nannte die Umfrageergebnisse „alarmierend und nicht akzeptabel“. Gleichzeit bestätigt er jedoch eine Übereinstimmung mit den Wahrnehmungen des Verbands, der sich seit mehreren Jahren für eine Verbesserung der Gelingensbedingungen für den Gemeinsamen Unterricht einsetzt: „In den Gesprächen mit Kollegen stellen wir immer wieder fest, dass die Inklusion an Thüringens Schulen um jeden Preis durchgedrückt werden soll, obwohl es auf allen Ebenen klemmt. Wenn die Lehrer diesbezüglich Unterstützung suchen, wird ihnen jedoch schnell mangelnder Wille vorgeworfen.“ Die Studie, so Busch, zeige in erschreckender Weise, dass es sich um ein gesamtdeutsches Problem handele – und um eines, dessen Lösung mitnichten im Einflussbereich der Lehrer liegt.

„Eine halbe Sonderpädagogik-Stelle pro Schule war ein guter Anfang“, konstatiert der tlv Landesvorsitzende, „aber nicht mehr als das. Die Bedingungen für einen gelingenden Gemeinsamen Unterricht sind nach wie vor nicht vorhanden. Unsere Lehrer müssen, vor allem auch im Hinblick auf die wachsende Zahl an Schülern mit emotional-sozialen Entwicklungsstörungen, entlastet werden. Die Schulen müssen technisch und räumlich besser ausgestattet werden. Inklusion muss endlich als ein Thema anerkannt werden, das die gesamte Bildungspolitik unseres Landes angeht und nicht nur diejenigen, die an vorderster Front kämpfen.“

Hierin liegt nach Ansicht des tlv eine der wesentlichen Aufgaben, vor der die neue Landesregierung des Freistaates steht. „Inklusion muss so gestaltet werden, dass alle dabei zu Gewinnern werden. Im Moment fühlen sich die Lehrer jedoch als Verlierer – und dies zurecht, wie die forsa-Studie eindrücklich zeigt.“
Autor: red

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