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Zeitzeugen: Gerhard Fricke

Sonntag, 05. April 2015, 15:30 Uhr
In Nordhausen wird in diesen Tagen an die 70. Wiederkehr der Bombenangriffe im Jahr 1945 erinnert. Die nnz veröffentlicht mehrere Zeitzeugenberichte aus diesen Tagen...

Gerhard Fricke: Wie zwei (damals) junge Salzaer Bombardierung erlebten

Über die Luftangriffe auf Nordhausen am 3. und 4. April 1945 sind inzwischen zahlreiche Veröffentlichungen erschienen, zum Beispiel auch der Erlebnisbericht eines Verschütteten im „Heimatboten“, Heft 7.

Auch weiterhin sollten neben den auf Archivmaterialien gestützten Arbeiten die Erinnerungen von Zeitzeugen gesammelt und veröffentlicht werden, da sie geeignet sind, die damaligen Ereignisse späteren Generationen anschaulicher zu machen. Noch leben solche Zeitzeugen, aber auch die damals 14/15-jährigen haben heute schon das 85. Lebensjahr hinter sich gelassen. Es ist also höchste Zeit!

Das Nachstehende sind in den letzten Jahren niedergeschriebene Erinnerungen zweier Salzaer. Ein Bericht über das, was sich von Bombardierung und Befreiung Nordhausens in ihr Gedächtnis eingegraben hat. Beide waren 1945 15 bzw. 14 Jahre alt. Sie kannten sich 1945 noch nicht, sind aber seit 1951 verheiratet.

Die 15-jährige Hanna wohnte in der Parkstraße (heute Clara-Zetkin-Straße) nicht weit von der Ecke zur Grenzstraße, der 14-jährige Gerhard in der Schulstraße (heute Theodor-Neubauer-Straße), gleich hinter der Salza-Brücke, wo sich die Straße zu einem kleinen Platz mit den umstehenden Häusern 7-10 verbreitert, das Ganze im Volksmund „Schlesschen“ („Schlösschen“) genannt. Am gegenüberliegenden Salzaufer befindet sich auch heute noch die zur Salzaer Schule gehörende Turnhalle.

Beide waren Kinder „kleiner Leute“. Ihr Vater arbeitete in einer der zahlreichen Nordhäuser Brennereien und war während des Krieges Sanitätssoldat. Sein Vater war nicht zur Wehrmacht eingezogen worden, sondern auch während des Krieges als Lokführer bei der Harzquerbahn tätig. Beide Väter waren nicht Mitglied der NSDAP, sie leisteten aber auch keinen Widerstand gegen das NS-Regime.

Hanna hatte 1944 die achtjährige Volksschule in Salza abgeschlossen, danach das für alle Grundschülerinnen angeordnete „Pflichtjahr“ bei einer Hebamme abgeleistet und sollte am Dienstag, dem 3. April 1945 eine Lehre in der Nordhäuser Tabakfabrik Grimm und Triepel in der Nordhäuser Grimmelallee beginnen.
Gerhard besuchte 1945 die Heinrich-Mittelschule in der Nordhäuser Domstraße. Er hatte den Kriegsverlauf eifrig verfolgt, anfangs mit Begeisterung über die „Siege der deutschen Waffen“, später mit zunehmender Wut und Enttäuschung über die ständigen Rückzüge. Aber er glaubte noch 1945 an die von Goebbels versprochenen „Wunderwaffen“, die möglicherweise auch im Kohnstein gebaut wurden. Noch im März 1945 erlebte er anstelle der Konfirmation eine „Jugendverpflichtung“ in der „Friedenseiche“ mit Fahneneinmarsch und einer bombastischen Rede über den bevorstehenden „Endsieg“.
Hatte man in der Öffentlichkeit nur hin wieder einige Häftlinge aus dem „Lager Dora“ – so hieß es im Volksmund - beim Arbeiten unter der Bewachung von SS-Leuten zu Gesicht bekommen, waren dagegen die nach Deutschland verschleppten mehr oder weniger „freiwillig“ verpflichteten Zwangsarbeiter (damals „Fremdarbeiter“ genannt) nicht zu übersehen. Solche waren bald nach Kriegsbeginn auch in der Salzaer Turnhalle untergebracht. Unter ihnen waren Franzosen, Holländer, Polen (mit einem „P“-Stoffabzeichen auf der Brust), aber auch russische Kriegsgefangene mit einem „R“, die alle in Nordhäuser Betrieben arbeiten mussten. Auffällig war, wie hier differenziert wurde: Die Westeuropäer und Polen in der Haupthalle schliefen in Doppelstockbetten und jeder hatte einen Spind. (Einen solchen Doppelspind findet man im Original in der Ausstellung in der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora).

Die Russen dagegen (in der Nazi-Propaganda als „Untermenschen“ bezeichnet), die in den Umkleideräumen der Turnhalle untergebracht waren, mussten sich mit dreistöckigen Betten mit Strohunterlage begnügen und ihre Habseligkeiten in einer Kiste unterbringen. Als die nächtlichen Luftalarme begannen, kam immer ein Holländer zu Gerhards Eltern und Großeltern in den Keller, denn er hatte schreckliche Angst vor Bombardierungen: er hatte die deutschen Luftangriffe auf Rotterdam miterlebt.

Ostern fiel 1945 auf den 1. und 2. April. Also begann Hannas Lehre am Dienstag, dem 3. April. Früh machte sie sich auf den Weg, erhielt ihren Arbeitskittel und ihren Spind und erledigte die ersten Arbeiten in der Abteilung, in der sie Lehrling werden sollte. Frohgemut kam der erste Feierabend im Betrieb, und es sollte auch der letzte werden. Denn um 16.15 Uhr - kurz nach Arbeitsschluss - ertönten die Luftschutzsirenen und verkündeten Fliegeralarm. Das war ein durch die Jahre vertrautes Geräusch. In den vergangenen Kriegsjahren waren die englischen und amerikanischen Geschwader immer über Nordhausen hinweg ostwärts gezogen.

Damit war Nordhausen bisher verschont geblieben. Im August 1944 war zwar mal eine Bombe auf dem Acker hinter der Scheune der Nachbarn von Gerhards Vaterhaus eingeschlagen, aber ohne Schaden anzurichten. Und am Ostersonntag 1945, also am 1. April, gab es am Rande der Stadt und auch Salzas einige Bombeneinschläge.

Am 3. April aber war es anders. Kurze Zeit nach dem Voralarm, kam Vollalarm, und dann krachten auch schon Bomben. Betroffen war vor allem die Lesserstiege, eine Fußgängertreppe zwischen dem damaligen unteren Ende der Rautenstraße und der Neustadtstraße. In Salza wurde das „Gemeindehaus“, ein Wohnhaus gegenüber dem Bahnhof, von einer Bombe zur Hälfte zerstört.

Hanna erinnert sich: „Nach dem Ertönen des Voralarms sollte ich gemeinsam mit den anderen Kollegen in den Luftschutzkeller von Grimm und Triepel. Aber ich wollte lieber nach Hause und begab mich schnellen Schritts in Richtung „Altentor“ und „Kurzes Feldchen“, einem Verbindungsweg zwischen Nordhausen und Salza. Aber da fielen kurz nach dem Vollalarm schon die Bomben. Ich rannte zum „Felsenkeller“, einem früheren Bierkeller, der in der Wallrothstraße in den Hang des Geheges getrieben worden war und jetzt als großer öffentlicher Luftschutzkeller diente. Der Felsenkeller ist voll!‘ riefen mir aber Leute zu, also kehrte ich um, lief durch den Stadtpark in Richtung der Zorge, zog Schuhe und Strümpfe aus, watete durch das Wasser und rannte weiter in Richtung des Fremdarbeiterlagers am Föhrdamm, wo mich Franzosen, die dort untergebracht waren, aufnahmen und zu beruhigen versuchten.

Obwohl der Bombenkrach vorüber war, war es doch noch immer sehr gefährlich, da ständig Tiefflieger kreisten und auch auf einzelne Personen schossen. Auch die Baracken der Franzosen blieben nicht verschont. Nach einiger Zeit konnte man es wagen, weiter nach Salza zur Parkstraße zu laufen - auch vorbei am zerstörten Gemeindehaus gegenüber dem Salzaer Bahnhof. Atemlos kam ich zu Hause an und konnte meine Mutter beruhigen, die natürlich große Ängste ausgestanden hatte.“

Als Hannas Vater im Sondershäuser Lazarett, wo er stationiert war, von den Luftangriffen auf Nordhausen erfuhr, besorgte er sich von einem verständigen Vorgesetzten einen Marschbefehl nach Nordhausen und fuhr mit dem Fahrrad über den Hain nach Salza. Wieder bei der Familie konnte er sofort seine Kenntnisse als Sanitäter nutzen, um der Tochter einige kleine Bombensplitter aus ihrem Hinterteil zu entfernen. Den Rückreisetermin ließ er unbeachtet, aber glücklicher Weise überstanden er und seine Familie die eine Woche bis zum Einmarsch der amerikanischen Truppen; der Vater wurde nicht durch Nachbarn denunziert, entging also einer Verhaftung durch übereifrige Nazis und dann sogar der amerikanischen Kriegsgefangenschaft.

Auch Gerhard erlebte am 3. April hautnah die verheerende Wirkung von Fliegerbomben. Er beteiligte sich als diensteifriger Jungvolk-Pimpf an den Rettungsarbeiten beim zerstörten Gemeindehaus in Salza und sah zum ersten Mal in seinem Leben eine Tote. Er half, ein Mädchen – sogar mit dem gleichen Nachnamen, aber nicht verwandt mit seiner Familie – aus den Trümmern zu tragen. Dann wurden Hunderte Häftlinge aus dem Konzentrationslager „Dora“ unter SS-Bewachung mit Hunden an die Trümmer heran getrieben, ein für Alt und Jung in Salza schockierender Anblick.

Es sollte noch schlimmer kommen. Am 4. April morgens erfolgte der zweite Angriff.

In nur 20 Minuten zerstörten Spreng- und Brandbomben die Innenstadt Nordhausens. Tausende Menschen starben, nicht nur Nordhäuser, sondern auch Fremdarbeiter, KZ-Häftlinge, sowjetische Kriegsgefangene in der Boelcke-Kaserne am Südrande der Stadt. Ob durch Brandbomben oder durch Selbstentzündung begannen die Trümmer zu brennen – Nordhausen war ja eine alte Stadt mit überwiegend Fachwerkhäusern. Da es durch den Schock der jähen Bombardierung zu keinerlei Löschmaßnahmen kam, brannte das Feuer eine Woche lang und zerstörte auch noch Straßenzüge der Altstadt, die nicht von Sprengbomben getroffen worden waren.

Der Qualm über der Stadt war über weite Strecken zu sehen. Wie durch ein Wunder blieben Rathaus und Stadthaus wie auch das neue Stadthaus mit der Sparkasse der Stadt, wenn auch mit schweren Schäden, erhalten. Sogar der hölzerne Roland stand unversehrt auf seinem Podest an einer Rathausecke. Dagegen waren die Nordhäuser Haupteinkaufsstraßen, wie Rautenstraße (gleichzeitig die Flaniermeile der Nordhäuser Jugendlichen) und Vor dem Vogel, Kranich- und Töpferstraße, Kornmarkt und Lutherplatz, Pferdemarkt und Engelsburg, das Riesenhaus und das schöne Rosenthalsche Haus wie auch Marktkirche, Petrikirche und Neustädtische Kirche, Hauptpostamt und Stadttheater, die großen Säle der Gaststätten „Hoffnung“ und von Spangenberg und zwei der drei Kinos zerstört. Das Lutherdenkmal hatten die Nazis selbst schon vorher eingeschmolzen.

Die Bahnhofsanlagen hingegen – immerhin war Nordhausen ein bedeutender Eisenbahnknotenpunkt – wie auch die zwei großen Rüstungsbetriebe, die Montania und Schmitt & Kranz, wurden nicht bombardiert. Auch das unterirdische V-Waffenwerk im Kohnstein mit seinen umfangreichen Bahnanlagen sowie die Gipswerke in Niedersachswerfen (wichtig für die Schwefelsäureherstellung in Leuna) - nur drei bis vier Kilometer vom Nordhäuser Zentrum entfernt - blieben unversehrt und hätten weiter produzieren können.

Warum es zu diesen Luftangriffen nur eine Woche vor der Einnahme Nordhausens durch amerikanische Truppen gekommen ist, war in den Nachkriegsjahren Gegenstand vieler Debatten. Zum Beispiel wurde nach 1945 erzählt, dass der NSDAP-Kreisleiter die Stadt nicht kampflos an die Amerikaner übergeben wollte und es deshalb zur Bombardierung kam. Oder hing die Zerstörung der Stadt damit zusammen, dass Thüringen ab 1. Juli 1945 zur sowjetischen Besatzungszone gehören sollte? Die Zielstellung, durch Bombardierungen die Moral der Zivilbevölkerung zu erschüttern, war im April 1945 sicher nicht mehr gegeben. Genaue Aufschlüsse über die Motive für die Bombardierung Nordhausens können nur Forschungen in jetzt zugänglichen Archiven der Alliierten bringen.

Den Luftangriff auf Nordhausen am 4. April 1945 erlebten Hanna und Gerhard in Salza in den häuslichen Kellern. Ein unauslöschlicher Eindruck blieb das Krachen und Beben der Detonationen, obwohl das tobende Inferno ja zwei bis drei Kilometer entfernt war. Beide haben die schrecklichen Geräusche der Bombenexplosionen und die Erschütterungen der Kellergewölbe ihr Leben lang nicht vergessen, wie auch jedes Geheul von Sirenen - auch im Fernsehen - immer wieder schreckliche Erinnerungen wachruft.

Zahlreiche Nordhäuser und Salzaer Einwohner, auch nicht ausgebombte, flohen in die Stollen des Kohnsteins. Die Stadt wurde ihrem Schicksal überlassen und brannte einfach ab. Eine Woche lang waren auch vom „Schlösschen“ Feuer und Rauch der brennenden Stadt zu sehen. Seine Bewohner aber besprachen, das Kommende zu Hause abzuwarten und nicht in die Kohnstein-Stollen zu ziehen. Hannas Familie dagegen suchte Zuflucht bei der Großmutter in Wolkramshausen.
Autor: red

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