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Gedenken an den 9. November: Unvergesslich...

Freitag, 07. November 2014, 07:11 Uhr
Als 15 Jahre alter Junge erlebte Erich Helmer die Progromnacht 1938 in Nordhausen. In einem bewegenden Brief an die Redaktion der nnz schildert er seine Erlebnisse und zieht Schlussfolgerungen...


Zum 76. Mal werde ich an den Tag erinnert, an dem die Verfolgung der Juden einen Höhepunkt erreicht hatte: der 9..November 1938.

Ich wohnte damals in einem Ort in der Nähe von Nordhausen und war Fahrschüler des Reform-Real-Gymnasiums. Noch etwas müde kam ich am Morgen des 10. Novembers mit dem „Quirl“, so nannten wir Fahrschüler die Harzquerbahn, in Nordhausen an und waren fassungslos: die Straßen zu Schule waren „zugeschüttet“ von zerrissenen Kleiderfetzen, Schuhen, Büchern, zertrümmerten Möbeln, zerstörtem Fensterglas, eine unabsehbare Wüste, die uns ahnungslosen „Auswärtige“ erschrecken ließ.

Erst unsere Mitschüler klärten uns auf: letzte Nacht habe man die Juden der Stadt vernichtet. Selbst die Synagoge habe man angezündet und einen uns allen bekannten Juden, den wir fast jeden Mittag trafen, wenn er eingekauft hatte und auf unsere Fragen seine erworbenen Schätze zeigte, in ihr verbrennen lassen. Von unseren jüdischen Klassenkameraden war keiner mehr zu sehen.

Der Unterricht begann wie jeden Tag. Der Klassenlehrer, ein fanatischer SA-Mann, kam in die Klasse und begrüßte uns mit „Heil Hitler!- Zuvor ein Wort des Führers: die Juden sind unser Unglück. Letzte Nacht haben wir es den Juden aber gegeben und unsere Stadt von ihnen befreit! Setzt Euch!“ Ein Klassenkamerad rief laut in die Klasse: „Ihnen hat man es wohl auch gegeben, das rechte Auge ist ja total blau!“ Der Lehrer schwieg einen Moment und erklärte, er habe sich gestoßen in der Dunkelheit. Er hätte morgens um zwei Uhr den Einsatzbefehl bekommen, die Juden aus der Stadt zu jagen. Wir waren so schockiert, dass der Unterricht kaum zustande kam.

In der Schule wurde nach der ersten Stunde nur noch über die Ereignisse diskutiert. Es wurde uns verboten, irgendeinen Kontakt zu unseren jüdischen Mitschülern auf zunehmen.

Nach meiner Heimkehr erzählte ich meinen noch ahnungslosen Eltern, was in der letzten Nacht passiert sei. Sie waren total erschrocken und sprachlos. Uns Kindern wurde plötzlich klar, warum sie so ratlos erschienen: Mutter war Halbjüdin. Was wird uns jetzt erwarten? Nach wenigen Tagen kamen erste Nachrichten von den Verwandten: Zwei Cousins meiner Mutter, die als Juristen in Braunschweig tätig waren, konnten sich für kurze Zeit verstecken und flohen dann ins Ausland. Die Schwester meiner Mutter, eine Pianistin, durfte keine Konzerte mehr geben oder Musikunterricht erteilen. Was geschah mit den Juden in Nordhausen?

72 Festgenommene wurden am 10. November mit Bussen in das Konzentrationslager nach Buchenwald gebracht. Mindestens fünf von ihnen starben auf der Fahrt nach dort unter ihnen der Kantor der Synagoge. Er war von der SS –Wachmannschaft zu sehr gefoltert worden. Der Sohn verübte Selbstmord. Er sprang in eine Latrine und ertrank.

Neun Monate später: Anfang Juli – wir wohnten noch in Braunlage, wo Vater als Pfarrer tätig war, klingelte jemand an der Haustür: Meine zwei Brüder und ich rannten hin und standen einem Mann gegenüber, der uns mit erhobenem Arm begrüßte: „Heil Hitler, Ihr Jungen!“ Mein zwei Jahre jüngerer Bruder antwortete: “Das sagen viele, wir sagen Guten Tag!“ Die Antwort war: „Das wird sich bald ändern !“

Die Erklärung gab uns Vater:“Der Mann war ein Oberlandeskirchenrat der Braunschweigischen Landeskirche. Er - wie auch einige andere Oberlandeskirchenräte - waren überzeugte Nationalsozialisten. Ihr wisst, dass ich kein Nationalsozialist bin und zur Bekennenden Kirche gehöre. Zur ‚Strafe‘ dafür müssen wir innerhalb einer Woche Braunlage verlassen. Man hat mich in ein kleines Dorf bei Bad Harzburg versetzt.“

Mit meinen 91 Jahren und nach Jahrzehnten als Pfarrer und als Militärpfarrer werde ich alles tun, um das Geschehene nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Erich Helmer, Pfr.em.
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Autor: red

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