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Menschenbilder (49)

Dienstag, 23. Oktober 2012, 11:18 Uhr
Im Spätherbst 2013 veröffentlicht der Nordhäuser Autor Bodo Schwarzberg den zweiten, reich bebilderten Band der Buchreihe "Menschenbilder aus der Harz- und Kyffhäuserregion" - wiederum mit rund 200 Texten über Zeitzeugen unserer jüngeren Geschichte...

Dipl. Ing. Gottfried Glenk

mit 40 Jahren Dienstzeit dienstältester Meteorologe auf der Wetterwarte Brocken, 38879 Schierke

„Er hängt schon sehr an seinem Brocken“, sagt Rosemarie Glenk über ihren Ehemann, „es ist ihm nicht leicht gefallen, aufzuhören.“ Gottfried Glenk (geb. 27.01.1943 in Wernigerode) reiht sich mit seiner fast 41-jährigen Dienstzeit als Meteorologe ein in die Reihe exklusiver Zeitzeugen, die über den höchsten Harzgipfel Besonderes berichten können. Denn er gehörte zu den ganz wenigen Zivilpersonen, die den Brocken nach dessen Sperrung für die Öffentlichkeit im Zuge des Mauerbaus 1961 betreten durften – und zwar ab 1967, dem Jahr des Beginns seiner Tätigkeit.

Er wurde hautnah mit den Problemen konfrontiert, die sich aus dessen Lage fast unmittelbar am „eisernen Vorhang“ ergaben, aber er gehörte auch zu den wenigen Menschen, die dessen Befreiung am 3.12.1989 miterlebten.

Die Geowissenschaften bestimmten bereits das Leben des Großvaters meines Gesprächspartners, Dr. Franz Meine, der u.a. einst auf der Krim nach Öl bohrte und 1936 verstarb. Seit 1922 betrieb die Familie im Schierker Hermann-Löns-Weg 3 eine Pension, eine Tradition, an der auch Rosemarie und Gottfried Glenk seit der Wende wieder anknüpfen. Dessen Eltern, Ursula und Friedrich Glenk, übernahmen die Pension und führten sie hauptberuflich fort. Nachdem Friedrich Glenk bereits ein Jahr nach der Geburt seines Sohnes an der Kanalküste gefallen war (1944), wurde sie von der Mutter und der Großmutter von Gottfried Glenk allein weiter betrieben, bis zum Ende des Individualtourismus nach Schierke am 13. August 1961. Ursula Glenk war anschließend als Kellnerin im Handwerkerheim und als Verkäuferin beim Konsum bzw. einem Bäcker tätig.

Der spätere Meteorologe besuchte bis zur achten Klasse die Schule des Harzortes und machte anschließend an der EOS Gerhard Hauptmann in Wernigerode Abitur. Anschließend war er, unterbrochen durch die eineinhalbjährige Armeezeit, bei der Firma Autolicht Krause der Harzstadt tätig, wo er vor allem Batterien zusammensetzte. „Diese Arbeit war gesundheitsschädlich und ich war froh, als meiner Mutter zu Ohren kam, dass auf dem Brocken ein „Assistent für Meteorologie“ gesucht wurde. Ich hatte mich schon immer für die Natur und das Wetter interessiert und sehnte mich, auch angesichts meiner damaligen Arbeit, nach einer entsprechenden Tätigkeit“, sagt er.

Nach einer entsprechenden Ausbildung beim Meteorologischen Dienst der DDR in Potsdam, legte Gottfried Glenk 1969 eine Prüfung ab, war jedoch schon seit September 1967 auf der Wetterwarte Brocken im beruflichen Einsatz. „Es war fraglich, ob sie mich hochlassen würden. Immerhin hatten wir zahlreiche Westverwandte. Vier Wochen des Wartens vergingen, bis sich die ‚zuständigen Stellen‘ zu einer Entscheidung durchringen konnten“, denkt er zurück. Um seine Chancen zu erhöhen, bewarb er sich zeitgleich für den ehrenamtlichen Einsatz als „Freiwilliger Helfer der Grenztruppen“ und damit für einen in der Bevölkerung nicht gerade beliebten Status.

Die Bewerbung wurde negativ beschieden, der Weg zu rund 40 Jahren wetterdienstlicher Tätigkeit auf dem Brocken jedoch war frei. – Anfangs durften die Wetterleute sogar noch ihre Kinder mit hinauf nehmen auf den fünfgeschossigen Turm. Die Ehefrauen hingegen waren für die folgenden rund 20 Jahre nicht erwünscht.

Vom Dienst an einem ganz besonderen Ort

Die Wetterwarte auf dem Brocken verfügt über fünf Etagen: In den siebziger Jahren befanden sich im Erdgeschoss Übernachtungsräume, in der ersten Etage ein Aufenthaltsraum, in der zweiten das Stationsleiterzimmer, in der vierten zwei weitere Übernachtungszimmer und im fünften das Dienstzimmer, in dem sich die Wettermänner meistens aufhielten. Heute beherbergt das Erdgeschoss ein Archiv und in den beiden folgenden Geschossen hat die Technik zur Messung der Radioaktivität ihren Platz. Ansonsten hat sich an der Raumaufteilung in all den Jahren nur wenig geändert.

Von 1970 bis 1974 absolvierte Gottfried Glenk an der TU Dresden ein Fernstudium zum Ingenieur für Meteorologie. Der Abschluss wurde nach der Wende als „Diplom-Ingenieur“ anerkannt.

Anfänglich betrug die Länge eines Dienstes der insgesamt fünf auf dem Brocken beschäftigten Meteorologen 24 Stunden, wobei jede Schicht nur mit einem Wettermann besetzt war. Stündlich mussten sie an ihrem einsamen Arbeitsplatz zahlreiche Messgeräte ablesen: zum Beispiel Thermometer, Niederschlags- und Windmesser. „Je nach den zu erfassenden Werten gab es so genannte kleine, mittlere und große Wetter: „Kleine Wetter“ wurden stündlich, mittlere aller drei Stunden und große aller sechs Stunden erfasst“, sagt er. Die Werte wurden von den Meteorologen auf DIN-A3-Bögen und in Bücher eingetragen, verschlüsselt und per Fernschreiber an den Wetterdienst nach Potsdam übermittelt.

Abenteuerlich und durchaus buchfüllend sind die Geschichten, die Gottfried Glenk über seine geografisch herausgehobene Tätigkeit auf dem Brocken erzählen kann, zum Beispiel hinsichtlich seines Arbeitsweges: während er während des Sommers in den ersten zehn Jahren seiner Tätigkeit mit der „Wetterdienst-AWO“ von Schierke zum Brocken fahren durfte, ging er während des auf dem Brocken sehr langen Winters die rund sieben Kilometer zu Fuß auf Arbeit. – über Bobbahn und Brockenstraße. Lag kein oder nur wenig Schnee, bewältigte er die Strecke in ca. 90 Minuten.

Eine zu tief verschneite Bobbahn konnte es allerdings notwendig machen, die Wetterwarte ausschließlich über die elf Kilometer lange Brockenstraße zu erreichen, sofern sie geräumt war. Aber es ging auch noch anders: Denn mitunter mussten sich Gottfried Glenk und seine Kollegen durch Schneemassen und Schneewehen kämpfen. Dann waren „Extrem-Wanderungen“ von zwei bis vier Stunden Dauer nicht ausgeschlossen. Kamen zufälligerweise Fahrzeuge der Grenztruppen oder des MfS vorbei, wurden die Wetterleute auf ihrem Weg nach oben oder unten gern mitgenommen.

Bis 1978 durften sie auch noch Skier zur Abfahrt vom Brocken in Richtung Schierke nutzen. Diesen exklusiven Wintersportgenuss jedoch hatten sie nur dann, so Gottfried Glenk, wenn die Brockenstraße noch nicht gestreut war.

Zeigte sich das Wetter zu stürmisch und erreichten die Schneehöhen zu hohe Werte, konnte es passieren, dass den auf dem Brocken diensttuenden Wettermann die Ablösung nicht erreichte. Er musste dann notfalls mehrere Tage lang 24-Stunden-Schichten schieben, so lange halt, bis es seinem Kollegen gelang, nach oben zu kommen. „Die Brockenstraße war meist geräumt, wofür eine zivile Schneefräse westlicher Produktion zum Einsatz kam. Zeitweise übernahm dies ein besonderer Trecker, der allerdings erst aus Hasselfelde angefahren kommen musste“, erinnert sich Gottfried Glenk.

Den landschaftlich besonders schönen Weg durch das Eclerloch durften die Wetterleute übrigens bei Strafe nicht nutzen: „Die größte Sorge der Grenzer waren Fußspuren, die sie nicht zuordnen konnten. Von daher wurde uns der zu benutzende Arbeitsweg genau vorgeschrieben und dessen Einhaltung streng kontrolliert“, erklärt Gottfried Glenk. Die übergroße Bedeutung dieser Regeln für die „Organe“ erfuhr der Schierker noch kurz vor der Wende: Ein MfS-Mitarbeiter erschien eines Tages mit der Kopie eines Fußabdrucks bei ihm zu Hause und verglich diesen mit dem Profil seiner Schuhe. „Es stimmt. Damals hatte ich ausnahmsweise mal eine kleine Abkürzung genommen. Damit handelte ich mir großen Ärger ein“, denkt er zurück.

Im Jahre 1978 gab es eine Neuordnung und deutliche Verschärfung jener Bestimmungen, die die Bewegung aller auf dem Brocken diensttuenden Personen zum Inhalt hatten. Der Ausgangspunkt war eine so genannte Sicherheitskonferenz auf dem Harzgipfel unter Beteiligung von Vertretern der Volkspolizei, der Deutschen Post, des MfS und der Meteorologen. „Der Regimentskommandeur der im Gebiet stationierten Grenztruppen beklagte, dass „diese Zivilisten von der Wetterwarte“ noch immer „im Schutzstreifen herumlaufen dürfen“.“ Damit war nun Schluss: Gottfried Glenk musste sich in Schierke fortan von einem allradgetriebenen W 50 der Post abholen und wieder nach Hause bringen lassen. „In dem LKW wurde ein Buch geführt, in dem jede gerade auf den Brocken transportierte Person verzeichnet war. Oben nahm das Buch der diensthabende Offizier in Empfang. Beim Verlassen des Berges nach Dienstschluss erfolgte die Streichung des jeweiligen Namens“, erklärt er. Die Deutsche Post ließ sich den Chauffeur-Dienst vom DDR-Wetterdienst monatlich übrigens mit Benzinmarken im Wert von 75 Mark vergüten.

Angekommen auf dem Brockenplateau, musste sich der Meteorologe umgehend bei den diensthabenden Grenzsoldaten melden. Auf einer an der Wand des Brockenbahnhofs hängenden Magnettafel wurden von diesem dann die Buchstaben „GLENK“ als Zeichen seiner Anwesenheit aneinandergereiht. Erst jetzt durfte sich der Wettermann auf die genau vorgeschriebenen letzten Meter hin zu seinem Arbeitsplatz machen. Bei den 240 Nebeltagen pro Jahr konnte es dabei natürlich vorkommen, dass er sich unbeobachtet auf der mit hochsensibler Spionagetechnik ausgestatteten Kuppe bewegen musste. Aus diesem Grund hatte er sofort nach dem Eintreffen auf der Wetterwarte die Nummer der diensthabenden Soldaten wählen, um seine unversehrte Ankunft zu melden. „Einmal habe ich auf dem Weg hinüber ein paar Blaubeeren gegessen. Da man mich nicht sah und auch mein sehnsüchtig erwarteter Anruf zur erwarteten Zeit ausblieb, hätte die Truppe beinahe Alarm ausgelöst“, schmunzelt er.

Zeitweilig sinnierten die „Organe“ darüber nach, ob sie den mit großem Argwohn beäugten Dienst der Zivilisten in der Wetterwarte nicht selbst übernehmen könnten. Dazu jedoch kam es nie.

Den Kontakt zwischen den Gliedern der eingeschworenen Brockengemeinschaft betrachtet Gottfried Glenk insgesamt aber als recht spannungsfrei, sofern er und seine Kollegen die strengen Regeln einhielten. So konnten die Wettermänner ihr Essen auch in der Kantine der Deutschen Post im heutigen Brockenhotel einnehmen oder aber im so genannten Russenmagazin original sowjetische Lebensmittel einkaufen.

Die anderen „Brockenmenschen“ zu DDR-Zeiten

Das Verhältnis zwischen den auf dem Harzgipfel stationierten sowjetischen Soldaten und den Wetterleuten war ein Besonderes: „Ich erinnere mich an einem Offizier, der ab und zu bei mir in der Wetterwarte vorbeischaute. Er interessierte sich sehr für den Brocken, sein Wetter und seine Geschichte und ich lieh ihm dazu Literatur aus. Nur einmal war er etwas verärgert, als er im Buchdeckel des bekannten, während der Nazizeit erschienenen Buches „Der Brocken“ vom einstigen Brockenwirt Rudolf Schade, die erste Strophe des Deutschlandliedes entdeckte. ‚Nix gut‘, sagt er.“

Aber auch einfache sowjetische Soldaten gaben sich, allerdings verbotenerweise und meist nachts, ein Stelldichein in der Wetterwarte. Sie nahmen die ihnen drohenden drakonischen Strafen in Kauf und krochen heimlich unter dem Zaun hindurch, die ihr Lager umgab. Für wenige Minuten entflohen sie so ihrer nicht enden wollenden Tristesse. „Wir gaben ihnen zu Essen und schenkten ihnen ab und an eine Ausgabe des „Magazins“, der einzigen und fast stets vergriffenen DDR-Zeitschrift mit weiblichen Aktfotos“, erzählt Gottfried Glenk. – Nie sei Gott sei Dank irgendwas von alledem herausgekommen.

Immer mal wieder kam es übrigens vor, dass ein sowjetischer Soldat vom Brocken abhaute. „Sie taten uns leid. Zwei Jahre lang waren sie jeweils auf dem Brocken stationiert, ohne den unwirtlichen Berg auch nur einmal verlassen zu dürfen“, so der langjährige Wettermann. Aber auch Grenzsoldaten schauten regelmäßig in der Wetterwarte vorbei. Denn dort befand sich das einzige wirklich zivile Telefon des Berges. Wer also mal in Ruhe mit seiner Freundin sprechen wollte, war bei den Meteorologen gut aufgehoben.

Während der Sommermonate erreichte drei oder viermal im Monat ein Zug der Harzquerbahn den Brocken. Stets saßen zwei Grenzer in einem der angehängten Wagons – zur Bewachung der beiden Zivilisten auf der Lok. Die Züge brachten u.a. Briketts für die sowjetische Einheit hinauf, die die sowjetischen Soldaten bei Tag und Nacht von Hand herunterzuladen hatten. Für die Füllung des Ölheizungstanks der Deutschen Post hing mitunter auch ein Kesselwagen, gefüllt mit Schweröl, an der Dampflok. Da dieses bei niedrigen Temperaturen oft zähflüssig wurde und sich dann nur schwer entladen ließ, erfolgte eine Beheizung des Kesselwagenkessels mittels eines ausgeklügelten Systems von der Lokomotive aus.

In den 80er Jahren brachten die Züge Schotter zur Fundamentierung jener Mauer hinauf, die schließlich den durch Wind und Wetter oft zerstörten Streckmetallzaun ersetzte. Auch die Mauerteile selbst lud man in die auf Rollböcken transportierten Normalspurwagen. 1987 aber war die Brockenstrecke endgültig heruntergewirtschaftet und der Zugbetrieb musste bis zur Neueröffnung des touristischen Betriebes nach dem Mauerfall eingestellt werden.

„Wetter machen“ auf dem Brocken

Zu den exklusiven Aufgaben der Wetterleute gehörte auch das gelegentliche Aufsuchen von Niederschlagsmessern, die sich im Umkreis von ca. 1,5 Kilometern rund um die Brockenkuppe, also inmitten der urwüchsigen, wilden Landschaft des Hochharzes befanden. Einer befand sich sogar auf dem ebenfalls über 1.000 Meter hohen Königsberg südwestlich des Brockens, nur ca. einen Kilometer von der Grenze entfernt.

In den ersten Jahren seines Dienstes durfte Gottfried Glenk die Geräte noch allein aufsuchen, später dann nur noch in Begleitung eines bewaffneten so genannten Betriebsschützers der Deutschen Post und schließlich von zwei Grenzsoldaten, von denen einer mit seiner Kalaschnikow hinter und einer vor dem Meteorologen zu gehen hatte. „Das waren recht unheimliche Exkursionen, schon weil niemand ein Wort sagen durfte. Und diese Touren dauerten vier bis fünf Stunden! ‚Das mache ich nicht mehr mit‘, ließ ich meine Vorgesetzten in Potsdam schließlich wissen“, so Gottfried Glenk. Die Messreihe wurde eingestellt. Dazu haben aber vielleicht auch ganz andere Vorkommnisse beigetragen: „Manche Grenzsoldaten kannten wohl die Bedeutung der Niederschlagsmesser nicht. Hin und wieder befand sich Urin, statt Regenwasser in den Geräten.“

Trotz des strengen Regimes rund um den sagenumwobenen Brocken wurden die auf ihm Diensttuenden immer wieder von der sie umgebenden atemraubenden Natur überwältigt. Als Gottfried Glenk noch allein hinüber zu seinem einsam gelegenen Niederschlagsmessern ging, kam es gar nicht so selten vor, dass an ihm 30 oder 40 Stück Rotwild an ihm vorbeizogen.

Die besondere Abgeschiedenheit und Unberührtheit des Brockengebietes als Ironie des kalten Krieges. War die Fernsicht einmal besonders gut oder der Sonnenuntergang besonders schön, fanden sich mitunter auch andere Brockenbeschäftigte auf der Wetterwarte ein, um ungestört von Vorgesetzten, verbotene Fotos zu machen. Offiziere nutzten die hohe Wilddichte mitunter für Treibjagden.

Zu den seltenen Ereignissen zählen Fernsichten von 150 oder gar mehr Kilometern.“Es kam gelegentlich vor, dass wir den Fichtelberg im Erzgebirge sehen konnten. Dann betrug die Sichtweite 220 Kilometer. Mitunter riefen uns die Kollegen vom Fichtelberg und teilten uns voller Freude mir, dass sie „uns“ im Harz gerade sehen können“, so Gottfried Glenk.

Doch das Brockenwetter konnte sich natürlich auch von seiner extrem ungemütlichen Seite zeigen: Unvergessen wird Gottfried Glenk z.B. der 24.11.1984 bleiben, an dem der schwerste Orkan seit Beginn der regelmäßigen Wetteraufzeichnungen im Jahre 1895 über das baumlose Plateau fegte: In Böen wurden damals 263 km/h gemessen. Zwar hatte mein Gesprächspartner zu diesem Zeitpunkt gerade dienstfrei, jedoch erinnert er sich noch gut daran, dass das Dach der sowjetischen Soldatenunterkünfte komplett fortgeflogen war. Eine der Moschee genannten schneeweißen Kuppeln, die die sensible Horchtechnik schützen sollte, war in das Dach des Bahnhofs gekracht und hatte es zerstört.

„Ab 160 km/h Windgeschwindigkeit aus Richtung West beginnt die Wetterwarte zu schwanken“, sagt Gottfried Glenk, der auch von seinen Ängsten berichtet, bei derartigen Stürmen auf das Dach der Wetterwarte steigen zu müssen, um die vorgeschriebenen Messwerte zu erfassen. Einmal seien bei einem Sturm auch mehrere Quadratmeter der äußeren Fassade des Hauses einfach abgefallen und weggeweht worden.

Wenig bekannt dürfte sein, dass die Wetterbeobachter auf dem Brocken bereits zu DDR-Zeiten die Aufgabe hatten, die Radioaktivität der Luft, des Bodens und der Niederschläge zu messen: „Es war erschreckend: Die oberirdischen Atomwaffentests von Amerikanern und Chinesen konnten wir oft noch nach Monaten und Jahren nachweisen“, sagt er. Nach der Explosion von Reaktor 4 des AKW Tschernobyl im April 1986 hätten die Meteorologen die mit Abstand höchsten Werte gemessen. Allerdings durften diese nicht dem Meteorologischen Dienst der DDR nach Potsdam übermittelt werden. „Wir mussten sie persönlich bei MfS-Leuten in Drei-Annen-Hohne abliefern“, sagt er.

Immer mal wieder fanden sich besondere Besucher auf dem ansonsten vollkommen abgeschotteten Brockengipfel ein: Es handelte sich dabei meist um Vertreter der politischen DDR-Elite. Selbst der langjährige DDR-Außenminister Oskar Fischer klingelte einst unten an der Wetterwarte und stellte sich dem verdutzten Gottfried Glenk als solcher durch die Sprechfunkanlage vor. Er ließ ihn ein, was jedoch ein Nachspiel hatte: „Meine Vorgesetzten in Potsdam kritisierten mich dafür, weil wir eigentlich keine fremden Personen einlassen durften. Sie hatten Bedenken, dass Fischer in Berlin verkünden könnte, die Wetterleute auf dem Brocken würden die Verbote nicht korrekt einhalten“, erklärt mein Gesprächspartner deren Ängste.

Mitunter wurde das besonders raue Klima des Brockens auch für Versuche und Tests genutzt: Unter anderem untersuchten Ingenieure die so genannte Nebelfrostablagerung an unterschiedlichen Materialien, die beim Bau des Berliner Fernsehturms verwendet werden sollten. Da sich bei bestimmten Wetterlagen große Mengen Eis ablagern können, sind diese Untersuchungen für die Sicherheit bedeutsam.

Mauerfall auf dem Brocken

Im Herbst 1989 absolvierte der Wettermann gerade eine Weiterbildung an der TU Dresden und erlebte die dortigen Demonstrationen hautnahe mit. Es dauerte fast einen ganzen Monat, bis der Mauerfall vom 9. November 1989 auch das wohl geordnete Regime auf der Brockenkuppe zum Wanken brachte. Immerhin wagten sich einige unverdrossene Wanderer in diesen vier Wochen schon einmal das Eckerloch oder die Brockenstraße hinauf. Gottfried Glenk sah mit einem Mal Menschen in bunten Anoraks, statt im gewohnten Uniformgrün, wenn er auf Arbeit fuhr.

Die drei Kilometer breite Sperrzone war durch den Mauerfall gegenstandslos geworden. Dass jedoch die Brockenkuppe als Heiligtum der militärischen Spionage des Warschauer Paktes frei zugänglich sein sollte, das erschien den noch im Amt befindlichen Militärs vollkommen undenkbar. „Wir hörten damals davon, dass man Wetterwarte und Bahnhof aus der Brockenmauer entlassen sollte. Alles andere sollte unzugänglich bleiben“, sagt Gottfried Glenk. Immerhin war den Wettermännern im November 1989 erstmals gestattet worden, ihren Ehefrauen zu zeigen, wo sie seit Jahrzehnten arbeiten. Am Ende vollzogen sich die Veränderungen auf dem Brocken viel schneller und anders, als die meisten gedacht: Am 3. Dezember 1989 rüttelten Dutzende DDR-Bürger am Tor der Festung.

Gottfried Glenk war unter ihnen. Sein gerade diensthabender Kollege hatte sich ganz besonders weit vorgewagt: „Mauer weg!“ stand auf einem von ihm über die Brüstung der Wetterwarte gehängten Transparent. „Ich sehe noch die vier Offiziere vor mir, die ratlos ob dieser Provokation über ihnen und der vielen Menschen vor ihnen hinter dem Tor standen, durch das die Menschen Einlass begehrten. ‚Dein Kollege ist uns in den Rücken gefallen. Das wird auch für Dich Folgen haben‘, sagt einer zu mir. Ich antwortete: ‚Was soll das denn jetzt noch für Folgen haben?“

Während sich die Verhältnisse für die uniformierten Brockenmitarbeiter nach dem 3.12. tiefgreifend änderten, versahen die Wetterbeobachter vom Brocken weiterhin ihren vorgeschriebenen Dienst. Nicht immer übrigens erfreut über die Tausenden Menschen, die den Berg in der Folgezeit heimsuchten. „Der ein oder andere Bodentemperaturmesser wurde schon von ihnen zertreten“, sagt Gottfried Glenk. Etwas besonders Grausiges widerfuhr einem Wettermannkollegen: Er befand sich gerade im oberen Geschoss der Wetterwarte, als im Erdgeschoss plötzlich die Scheiben eingeschlagen wurden. Wenig später kamen drei vermummte Gestalten die Treppe hinauf: Es waren Wanderer, die im plötzlich aufgekommenen Nebel und Sturm die Orientierung verloren hatten. Da sie den richtigen Eingang nicht fanden, verschafften sie sich, ausgekühlt und in Todesangst, durch das Fenster Zugang zu rettender Wärme.

Die 1895 als „Brockenobservatorium“ eingeweihte Wetterwarte gehörte bis 1996 zum Seewetteramt Hamburg, anschließend zur Leipziger Niederlassung des Wetterdienstes und heute zum Deutschen Wetterdienst in Potsdam. In das fünfgeschossige Objekt hielten PC und neue, moderne Messgeräte Einzug. „Endlich erhielten wir Windmessgeräte, die bei Schneestürmen nicht vereisten“, sagt Gottfried Glenk. Für ihn und seine Kollegen folgten zahlreiche Weiterbildungen. Nach einem viertel Jahrhundert mussten sie zwischen acht und 16 Uhr nun auch nicht mehr allein Dienst tun. Während dieser Zeit ist die Station von zwei Spezialisten besetzt. Bis heute.

Übrigens können natürlich auch die Wetterleute auf dem Brocken die gegenwärtige Klimaerwärmung nachweisen. So habe die im langjährigen Mittel berechnete Durchschnittstemperatur 1967 noch rund 2,4 °C betragen. Heute liege sie, ebenfalls bezogen auf das langjährige Mittel, bereits bei 3,3 °C.

Im Jahre 2008 endete für den Schierker Wettermann der Dienst auf dem Brocken und damit an einem literarisch, geografisch und meteorologisch ganz besonderen Ort. Der Sohn des Schierkers, Matthias Glenk (40), setzt dessen berufliches Lebenswerk fort: Als Wetterdiensttechniker versieht auch er auf dem höchsten Harzgipfel seinen Dienst. Und wenn ihm die mitgebrachten Stullen zu fade schmecken, dann kann er sich im Brockenhotel von seinem Bruder, dem Koch Andreas Glenk, ein schmackhaftes Essen servieren lassen.

Die Eltern der beiden indes betreiben wie bereits die großelterlichen Vorfahren meines Gesprächspartners in ihrem Wohnhaus Hermann-Löns-Weg 3 eine Pension. Die unglaublichen Geschichten indes, die Gottfried Glenk erzählen kann, sind Ausdruck einer Zeit, die niemals wiederkehrt und niemals wiederkehren soll. Der Brocken war von jeher ein ganz besonderer Berg. Die Erlebnisse des dienstältesten Schierker Wettermannes bestätigen dies eindrucksvoll.

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Autor: nnz

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