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nnz-Forum: Die klammheimliche Affäre

Mittwoch, 11. April 2012, 18:26 Uhr
Jenen, die die regionalen wie überregionalen Medien der Stadt Nordhausen in den letzten Tagen aufmerksam verfolgt haben, ist aufgefallen, dass sie von zwei Ereignissen geprägt waren, die nur scheinbar unabhängig voneinander Einzug in die Presse nahmen. Dazu ein Beitrag von Norman Böttcher...


Unter ihrem appellativen Charakter verbirgt sich meinem Erachten nach ein Verständnis von „Verantwortung“, welches merkwürdige Blüten trägt. Blüten, die bereits hätten verwelkt sein sollen.

Ein Leser der nnz, dessen Kommentar zu Günther Grass´ poetischen Ergüssen online publiziert wurde, bezeichnet „nicht das Gedicht von Günther Grass, sondern die meisten Reaktionen darauf“ als „unsäglich“ (Wolfgang Reinhardt). Er befürwortete Grass indem „dieser sagte, was ansonsten gern verschwiegen wird“: Ahmadinejad wird zum „Maulhelden, der sein Volk unterjocht“ heruntergespielt; er prophezeit die Mitschuld seines eigenen deutschen Landes an einem bevorstehenden „Völkermord“ der Jüdinnen und Juden des Staates Israel und lässt zugleich verlauten, dass dieser Staat eine „Gefahr für den Weltfrieden“ sei.

Die Kommentarspalte zu diesem Artikel lässt darauf schließen, dass Wolfgang Reinhard in Nordhausen mit seiner Einschätzung zumindest nicht allein auf weiter Flur steht. Woher aber kommt dieses offenkundige Mitsprachebedürfnis des Verfassers?

Kurz zuvor wurde in der Stadt Nordhausen der 8.800 Toten der alliierten Bombenangriffe vom 3. und 4. April 1945 gedacht. Auch hier findet eine Form der Mitsprache statt - eine passive, ein „stilles Gedenken“ -, welche die Verantwortung über das thematisiert, was sich in Nordhausen vor nunmehr 67 Jahren ereignete. „Man will von der Vergangenheit loskommen: mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben läßt, und weil des Schreckens kein Ende ist, wenn immer nur wieder Schuld und Gewalt mit Schuld und Gewalt bezahlt werden soll; mit Unrecht, weil die Vergangenheit, der man entrinnen möchte, noch höchst lebendig ist.“ (Theodor W. Adorno)

Dass dem so ist, zeigt der inzwischen allerorts bekannte Vorfall des tätlichen Übergriffs Roy Elberts, dem NPD-Abgeordneten im Stadtrat, und seiner Kameraden auf die Oberbürgermeisterin Barbara Rinke. Ihr couragierter und notwendiger Einsatz in allen Ehren, wir sollten jedoch nicht vergessen, dass sie von Beamten geschützt etwas getan hat, was nach der vorausgegangenen Podiumsdiskussion zu dieser Gedenkveranstaltung bereits beschlossen war: keine Kranzniederlegung aus Vorsicht davor, dass die Erinnerungszeremonie an die "Nordhäuser_innen" nicht durch Spruchbänder „missbraucht“ und „instrumentalisiert“ werden kann.

Seitdem rühmen sich weite Teile der Nordhäuser Bevölkerung ihrer Oberbürgermeisterin. „Endlich kann man als Nordhäuser_in wieder "stolz" auf seine/ihre Stadt sein“, wie es in Nordhausen überall verlautete. Diese heftigen fast überschwänglichen Reaktionen haben anlässlich dessen, dass Frau Rinke einzig einer öffentlichen Verpflichtung nachgegangen ist, die ihrer Position sogar durchaus zukommt, etwas Neurotisches. Es klingt fast so, als hätte sie dafür ihr Leben riskiert. Immerhin leben wir in einem bürgerlichen Rechtsstaat, dessen Ordnungshüter, gefasst auf eine solche Aktion der Rechtsradikalen, vor Ort waren. Sie handelte völlig richtig, allerdings im Rahmen der zuvor vereinbarten Richtlinien.

Dass jedoch die Teilnahme "der" Nazis vielleicht etwas mit Inhalt und Form des Gedenkens zu tun haben könnte, hinterfragt dabei niemand. Wenn in Nordhausen derer gedacht wird, die durch die Luftangriffe ums Leben kamen, dann wird ihnen heute als ihrer (zivil)gesellschaftlichen Funktion gedacht, gute und ehrliche Bürger_innen der Stadt gewesen zu sein, wofür sie aus heutiger Sicht kläglich versagt haben. Unter nationalsozialistischem Blick waren sie damit zu großen Teilen im Übrigen "gute Deutsche“.

Wir müssen überdenken, ob unser Verständnis vom Nationalsozialismus, ein bürokratisches, totalitäres Terrorregime gewesen zu sein, das ausgehend von einer fanatischen Minderheit gewaltsam seine Bevölkerung unterjochte, verfolgte und systematisch vernichtete, anlässlich der jubelnden Massen, deren Bilder auch vom Nordhäuser Theaterplatz bekannt sind, unser Geschichtsbild trügen.

Hier liegt offenbar die stillschweigende Einheit mit dem Grass-Sympathisanten Wolfgang Reinhardt aus Nordhausen, der mit seiner Einschätzung Ahmadinejads übersieht, dass die Opposition auch im Iran - und laizistisch und demokratische Kräfte im gesamten nahen und mittleren Osten - leider eine Minderheit sind. Statt sich ihrer Stärkung anzunehmen, werden wieder „Juden“ der Gefährdung „des“ Weltfriedens bezichtigt und es wird pauschal vom unterdrückten oder manipulierten iranischen „Volk“ geschrieben. Ein Geschichtsverständnis, das die aus Nordhausen überlieferten Erfahrungsberichte von KZ-Überlebenden und die Dokumente des SS-Stabs, die die im Lager als Vor- und Facharbeiter angestellten „zivilen Bürger“ anweisen mussten, die KZ-Häftlinge nicht „mit übertriebener Härte“ zu maßregeln, nachdem dadurch einige zu Tode kamen, nicht zulässt. Die Indizien verweisen auf eine Motivlage, die fernab von Widerständigkeit und Subversion liegt.

Gerade die besondere infrastrukturelle Lage Nordhausens lässt dabei ein „Von–allem-nichts-gewusst-Haben“ der Nordhäuser_innen einfach nicht zu. Aufgrund zahlreicher Indizien scheint diese Aussage geradezu obsolet: die abgemergelt durch die Stadt gezogenen Massen von Menschen, die tagtäglich wie Vieh zu Arbeitseinsätzen außerhalb des Lagers getrieben wurden; die mit Lebenden ein und mit Leichen ausfahrenden Güterwagons; das KZ-Gelände in Sichtweite mit seinem aufsteigenden Rauch, dessen Geruch verbrannter Körper man bis in die Stadt roch; den etwa 40 externen Baukommandos und Arbeitslagern und die mitten in der Stadt gestandene „Bölcke-Kaserne“, bei der die Häftlinge, nachdem sie nicht mehr arbeitstauglich waren, ihrem eigenen Schicksal überlassen wurden, festgesetzt ohne Nahrung und medizinische Versorgung. Und dieses sind bei Weitem nicht alle Nachweise.

Eine dem naheliegende Erkenntnis hielt spätestens unter dem Phänomen des „eliminatorischen Antisemitismus“ Einzug in den Sozial- und Geschichtswissenschaften und führte dort zum Umdenken über die deutsche Geschichte. Dieses Verständnis, das Daniel Jonah Goldhagen in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ prägte, scheint in die Zivilbevölkerung historisch einen Umweg zu nehmen.

Wenn wir also der Nordhäuser_innen kollektiv gedenken, in völlig gleichschaltender und undifferenzierter Weise, so schreiben wir eine bestimmte Geschichte fort. Die Opfer in den Konzentrations- und Vernichtungslagern wurden zu solchen gemacht, sie wurden aufgrund völkisch-biologistischer Argumente, die in der Bevölkerung Deutschlands tief verankert waren, aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Dieses geschah kollektiv und unabhängig dessen, wie sich die Opfer selbst zu dem positionierten, zu dem sie gemacht wurden. Wir sollten nicht, um mir erneut eine Entwendung Adornos zunutze zu machen, Ohnmacht walten lassen und die Ermordeten um das einzige betrügen, was unsere Erinnerung ihnen schenken kann: unser Gedächtnis. Ihrer gemeinschaftlich zu erinnern, soll die gruppenbezogene, menschenfeindliche Ausgrenzung umkehren, die ihnen angetan wurde, um sie dadurch wieder als Individuen zu respektieren. Es bedeutet, den Maßstab der Nazis nicht weiterhin als Richtlinie zu nehmen, wenn diese sagten: „Sie werden zu Recht verfolgt und planmäßig ermordet“. Dieses „Recht“ gilt aus heutiger Sicht nicht. Der Opfer kollektiv zu gedenken dient einzig dem Umstand, ihnen heute nachträglich Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Sich „der“ Nordhäuser_innen kollektiv an einem Datum zu erinnern, welches für die KZ-Häftlinge den seit Jahren ersten Hoffnungsschimmer auf das Ende des ihnen angetanen Unrechts bedeutete, da sie sahen, dass sich ihrer endlich wieder angenommen wird, schreibt diese deutsche Gleichgültigkeit fort. Das erste richtige Zeichen, sich dem zu widersetzen, zeigte Frau Rinke, als sie im Gegensatz zu den Vorjahren erstmals in ihrer Andacht dem Widerstand im Nationalsozialismus gedachte und in Nordhausen weiße Rosen niedergelegt wurden. Auch Reinhard Gündels Artikel unter dem Titel „Erinnerung verpflichtet“ in der nnz verweist mit Nachdruck auf den geleisteten Widerstand, nur bei ihm spezifischer: namentlich und mit Bezugnahme auf einen genauen Ort, das KZ-Mittelbau.

Nun sollten wir uns dennoch fragen, warum dies an dem besagten Datum geschieht. Es macht den Eindruck, als wollte man zeigen, nicht alle sind „schuldig“ gewesen und überträgt diese Aussage erneut kollektiv das auf die Zahl „8.800“. Scheinbar will man platt drücken und überschreiben, was faltig, knittrig und eingeschrieben ist. Der Verweis auf den Widerstand dient hingegen einzig zu zeigen, dass es bereits damals Menschen gab, bei denen Vernunft waltete, und es die Möglichkeit gab, sich irgendwie zu widersetzen, und wenn auch im fortgeschrittenen Nationalsozialismus nur innerhalb geringer Spielräume. Es sollte nicht genutzt werden, um den Eindruck zu erwecken, dass die „8.800“ Nordhäuser_innen kollektiv nicht dafür verantwortlich waren, was in ihrer Stadt passierte.

Dem Widerstand sollte demnach an Tagen gedacht werden als dieser auch stattfand. Dass dies großflächig nicht die „Normalität“ war und kein Umdenken erfolgte, zeigt sich an dem einfachen Umstand, dass nach Stalingrad keine Kapitulation Deutschlands, sondern der „totale Krieg“ und der „Endsieg“ bis zum eigenen Untergang propagiert und bejubelnd vollzogen wurde - auch an der „Heimatfront“ wie hier in der „Rüstungsstadt“ Nordhausen. Selbst als es „für Deutschland“ dringend notwendig gewesen wäre, die Infrastruktur vollends auf den Krieg umzustellen, wurde das Motiv, die Jüdinnen und Juden wie Sinti und Roma restlos auszulöschen sowie alle Andersdenkenden bis zu ihrem Tod arbeiten zu lassen, bis zum Ende durchgeführt.

Auch in Nordhausen wurde in den Tagen nach dem offensichtlichen Ende des Nationalsozialismus, dem Bombardement auf die Stadt, und der damit einhergehenden Schwächung nationalsozialistischer Strukturen das Lager nicht von der „Zivilbevölkerung“ befreit. Es gäbe genügend Möglichkeiten, sich angemessener mit der Nordhäuser Geschichte auseinanderzusetzen: indem man die Verflechtungen der vermeintlichen "Zivilbevölkerung" mit den Instanzen des Nationalsozialismus hervorstellt; die ungenutzten Spielräume jedes und jeder Einzelnen aufzeigt, die nachweislich bestanden, und sich fragt, wieso dieses nicht geschah; die Notwendigkeit der Bombardierung Nordhausens für den Schutz derer aufzeigt, denen aus eigenen Möglichkeiten nicht nachgekommen wurde, oder indem man eben einen Gedenktag am heutigen 11.4. etabliert, dem Tag der Befreiung des Lagers Mittelbau.

Wir können und sollten nichts dagegen haben, wenn getrauert wird. Trauer ist ein Prozess der Verarbeitung von noch unüberwundenen Lebens- oder, wie in unserem Fall, Geschichtsereignissen. Sie scheint nicht abgeschlossen zu sein. Dieser Trauer um Angehörige, die jedoch individuell im Privaten vollzogen werden sollte, muss dieser Raum gegeben werden. Niemand will mit einer anderen Form des Gedenkens den Nordhäuser_innen ihr Gedächtnis nehmen. Dieses jedoch als „Achim“, „Gertrud“, „Peter“ etc. und ihrer Handlungen und Taten, derer es sich zu erinnern lohnt. Damit gedenken wir ihnen als das, was sie im Gedächtnis bleiben, als Individuen und nicht in ihrer Rolle der „Zivilgesellschaft“ Nordhausens.

Womöglich waren sie ja wirklich neben ihrer Beteiligung am und Duldung des Massenmords - was wir uns einzugestehen gezwungen sind, anstatt es zu verdrängen - ja auch fürsorgliche Familienangehörige, aber das zumeist nur für ihre eigene „Verwandtschaft“ im privaten, nicht aber im sog. öffentlichen Raum, als das wir ihrer gedenken. Es ist unser Medium für nachfolgende Generation, ein Symbol, ein Zeichen zu setzen und das „Nie wieder!“ ernst zu nehmen. Aus diesem Grund heraus, können wir uns auch nicht auf Aussagen zurückziehen, die sagen, „das sei eine andere Zeit gewesen“. „Es geht nicht um die Verantwortung für die Vergangenheit, sondern um die Verantwortung um die Zukunft.“ (Fanny Englard).

Dies ernst zu nehmen bedeutet, sich gegenwärtig nicht selbst in irgendeiner Weise als „schuldig“ zu verstehen, denn es führt zum Selbsthass oder zur Schuldzuweisung derer, die am Wenigsten etwas dafür konnten: Jenen gegenüber, denen unmittelbar dieses Unrecht widerfuhr, sowie derer, die sich ihnen annahmen und dadurch sowohl für sie damals als auch für uns heute die Hoffnung auf Gerechtigkeit wach hielten. Das Entkommen vor der Vergangenheit gelingt einzig mit dem verantwortungsvollen Umgang mit ihr in der Gegenwart.

Die übertriebenen Reaktionen auf die Courage der Oberbürgermeisterin zeigen, dass hier noch etwas im Argen liegt. Sie zeigen eine Art Wut, sich bisher nicht positiv auf die eigene „Heimat“ bezogen haben zu können, der jetzt mit der Aktion vor dem Rathaus Luft gemacht wurde. Diese Wut beängstigt, da sie Ausdruck dessen ist, was man eigentlich loswerden sollte, nämlich der sogenannten „Schuld“. Die Schuldabwehr, die sich die letzten Jahre vor allem dadurch zeigte, dass an den Tagen der Befreiung des KZ-Mittelbau kein öffentliches Gedenken und zur Reichspogromnacht im Verhältnis zum Gedenken an die Bombardierung stets nur eine Handvoll Menschen der Opfer gedachten, untermauert diese Tendenz.

Es bleibt zu hoffen, um der Verantwortung jedes und jeder Einzelnen willen, dass für den heutigen Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Mittelbau ein größeres öffentliches Interesse geweckt wird. Ein Gutes hat der Vorfall vom 3.4.2012 vor dem Rathaus dennoch: es kann nun nicht mehr, wie vom Bürgermeister Matthias Jendricke behauptet werden, dass Nordhausen „kein Naziproblem“ hat. Dieses ist anlässlich des öffentlichen Auftretens der „freien kameradschaftlichen Kräfte" unter dem in der alternativen Medienlandschaft seit Jahren bekannten Logo „NDH-City“, die Seite an Seite mit dem NPD-Funktionär Elbert standen, mehr als offensichtlich. Nordhausen hat ein Naziproblem, das stimmt und muss benannt werden. Nur leider angesichts der nicht aufgearbeiteten, sondern bestenfalls verdrängten Vergangenheit ein viel größeres, als sich viele der ehrlichen Bürger_innen der Stadt eingestehen wollen, wenn sie ihrer Vergangenheit entkommen wollen und der 8.800 Zivilbürger_innen „kollektiv“ gedenken.
Norman Böttcher – Studierender des Studiengangs Gesellschaftstheorie an der Friedrich Schiller Universität Jena
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Autor: nnz

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