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Do, 11:30 Uhr
29.12.2022
Heidelore Kneffel über einen der bedeutendsten Dichter

Zur Erinnerung an den Poeten Wulf Kirsten

In seinen Gedichtband „Wettersturz“, aus dem er in Limlingerode im Dorfgemeinschaftshaus gelesen hatte, schrieb der Dichter Wulf Kirsten aus Weimar am 19. Juni 2002 eine Widmung, die von seiner Freude über den „Grünen Junipfad“ in der Flur von Limlingerode kündet...

Vom Landgänger, dessen Welt - Erfahrung … auf grünem Pfad bereichert wurde



Jetzt, im Dezember 2022, mussten die Mitglieder des Fördervereins „Dichterstätte Sarah Kirsch“ erschüttert erfahren, dass er, der mit seinen Gedichten, seinen Prosastücken, den Essays, seiner Herausgebertätigkeit den Mitmenschen vieles mit auf den Weg gab, verstorben ist. Was er wie aufgeschrieben hat, war für nicht wenige ein Ausdruck dessen, was man im eigene Leben ähnlich empfand, aber in solcher Sprache nicht ausdrücken konnte.

Wulf Kirsten liest im Wald von Limlingerode aus „Zwischen Standort und Blickfeld“ (Foto: H.Kneffel) Wulf Kirsten liest im Wald von Limlingerode aus „Zwischen Standort und Blickfeld“ (Foto: H.Kneffel)

Mir war es durch das ehrenamtliche Tätigsein mit anderen im Geburtsort der Dichterin Sarah Kirsch in Limlingerode vergönnt, Wulf Kirsten durch Briefe, Telefonate und persönliche Begegnungen näher kennenzulernen. Die ehemalige Pfarre, die dem Verfall preisgegeben war, wurde ab 2000 renoviert zu einem Ort, wo neben der Lyrik auch Bildende Kunst und Musik ein Zuhause haben sollten, denn diese drei Künste liebte Sarah Kirsch. Die Fördervereins-Mitglieder waren der Überzeugung, dass wir bei unserem nicht alltäglichen, ja fast abenteuerlichen Vorhaben versuchen sollten, in dem Dichter Wulf Kirsten, der der gleichen Generation wie die Kirsch angehörte, jemanden zu finden, der uns beratend behilflich sein könnte, die genannten drei Künste mit Programmen über den Ort hinaus wirken zu lassen. Und wirklich, mit einem Brief von 2001 gelang es, mit ihm über die folgenden Jahre mit Briefen, Telefonaten und persönlichen Begegnungen ein gutes Band zu knüpfen. In dieser Zeit las ich seinen Text „Die Welt ist ein Gehöft im Winter“, eine Rede über die Kirsch, verfasst bereits 1992, als die Dichterin von der Heine Gesellschaft die Ehrengabe erhielt. Es war zu erfahren, dass auch er ihr „schönschmerzliches Gedicht „Der große/Sehr schöne Meropsvogel“ hoch achtete. In diesem Beitrag über das Dichten der Kirsch - seit Franz Fühmann einer der treffendsten, die ich kenne – steht auch „Das verrufene Wort ‚Erde‘, von dem viele meinen, es sei ‚rechts‘ besetzt, also habe man es links liegenzulassen, hat sie zu einem Grundwort ihrer Gedichte und Texte werden lassen.“ Zum Schluss resümiert er, dass die Poetin mit der Gewissheit schreibe: „Ich stehe in einer Landschaft, die Vergangenheit heißt … jetzt wo der Planet vergeht darf ich Abendstern sagen … Die Welt ist ein Gehöft im Winter.“
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Seine profunden Kenntnisse über die Dichtkunst und die Dichtenden aus der Vergangenheit und über die, die in Thüringen und darüber hinaus ganz und gar heutig Literatur verfassen, führten uns in Limlingerode auf abwechslungsreiche Begegnungen. Bereits Ende 2001 sagte er uns für den Juni 2002 zu: „Lesen werde ich mit Elke Erb, Berlin. Wir stellen uns gegenseitig vor.“ Die Erb suchte sich den Kirsten-Text „Die Fähre“ aus, brach sich aber beim Fallen vom Apfelbaum vier Rippen. Sie würde, so ihr Telefonat, dann gern 2003 kommen, um ihre Lyrik zu lesen, schickte uns jedoch ihren Text, den wir vortrugen. Kirstens beginnt: „unterwegs über den fluß/ stunde um stunde bis in die Nacht …“ Die Fähre ist dann im „eisgang“ mit den Pendlern an Bord auf und davon. Die Erb beginnt ihren Text: „Mit meinen Augen gelesen ist unterwegs, unterwegs sein – nicht hier und nicht dort.“

Diesen Faden spinnt sie mit mehreren Verflechtungen spannend weiter. Da die Erb also verhindert war, schlug uns Wulf Kirsten seine dichtende Kollegin Annerose Kirchner aus Gera vor, deren Werdegang er seit 30 Jahren miterlebte. Sie las aus ihrem Band „Keltischer Wald“, anlässlich ihres 50. Geburtstages erschienen. Darin Holzrisse von Werner Wittig. Zahlreiche Literaten stehen der Bildenden Kunst sehr nahe, wie wir es erfahren haben. Die Kirchner wagte es auch durch Zuspruch von Kirsten, den Schritt zur freien Autorin zu wagen. Er stellte sie uns nach ihrer Lesung vor und wir hörten u. a.: „… man muß das Verborgene in sich und über sich schreibend ausloten. Das ist Voraussetzung, Distanz zu sich selbst und seinen Gegenstand zu erlangen … Um variabel sein zu können, muß man das Handwerkzeug beherrschen, z. B. diverse Stilmittel, denn jedes Gedicht beginnt neu.“ Auf dem „Grünen Junipfad“ sprachen wir dann über Poeten, die aus unserer Region stammen, z. B. Elise Ehrhardt-Rächler, Rudolf Hagelstange und Adolf Scheer. Er erfuhr erfreut, dass ihrer bei uns gedacht wird. Er erkannte, dass wir in Nordthüringen keinesfalls auf Schleichwegen in Kultur und Kunst unterwegs sind und artikulierte dies auch.

Im Jahr 2004 erlebten wir seine Herausgabe der Lyrikanthologie „Umkränzt von grünen Hügeln - Thüringen im Gedicht“. Er befragte mich während der Zusammenstellung der Sammlung vor allem bei der Aufnahme eines Sonettes von Wilhelm von Humboldt, in unserer Region angesiedelt: „Wo Friedrich Barbarossas Reiter zogen,/Zog ich in meines Glückes Jugendtagen/ … Aus jenen sehnsuchtsvollen Jugendwegen/Ist mir erblüht des ganzen Lebens Segen …“ Die junge Familie von Humboldt lebte fast ein Jahr (1792/93) auf dem Gut des Vaters von Caroline in Auleben, eine Prägezeit, die in den Briefen ausführlich geschildert wird.

Das nächste Mal begegneten wir Kirsten im Jahr 2005. Im September kamen Mitglieder der Pirckheimer-Gesellschaft für drei Tage zu uns, um ihr fünfzigjähriges Bestehen zu begehen. Diese Vereinigung von Sammlern und Kennern bibliophiler Bücher, Grafiken, Lesezeichen und anderer um das Bücherleben versammelter Dinge baten uns, den Sachsen Wulf Kirsten und die Berlinerin Gisela Kraft, beide nun in Weimar zu Hause, einzuladen. In den „Marginalien“, der Zeitschrift der Pickheimer, im 180. Heft (4.2005), schrieb Konrad Hawlitzki eine mehrseitige Darstellung über diese Zusammenkunft. Im Geburtsort Sarah Kirschs sprach Wulf Kirsten darüber, dass er durch Lothar Lang für die Bildende Kunst gewonnen worden sei und las dann seine Eindrücke über den Künstler Siegfried Klotz (1939-2004) vor „Ein Modell porträtiert seinen Maler“, ein kraftvoller Text über einen kraftvollen Künstler, der den Poeten gemalt hatte in seinem Dresdner Atelier. „Siegfries Klotz ist ein Frühaufsteher. Am liebsten ist es ihm, wenn die Modelle bereits vor Sonnenaufgang aufkreuzen. Er ist immer schon da und hat alles bereit gestellt und gelegt, um ohne Vorrede mit voller Kraft loszulegen. Er brennt darauf zu malen.“ Er war Prof. an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Kirsten las dann aus dem Gedichtband „erdlebenbilder“ und seinen Jugenderinnerungen „Nachtfahrt“. Auf der sich anschließenden Wanderung hin in die Gegend des „Grüner Junipfad“, „der durch Felder und Wiesen dem Bächlein Sete folgend in einen märchenhaften Fichtenwald führt.“, erfuhr Kirsten, dass auch Karin Kisker von Klotz porträtiert worden sei. Es entspann sich ein lebhaftes Gespräch.
Erinnert sei an die Vorstellung des Buches „Der gefesselte Wald“ im Geburtshaus der Kirsch, des berührenden Bandes, in dem Buchenwaldhäftlinge mit ihren Gedichten zu Wort kommen, die sie schrieben, als man ihnen die Menschenwürde nehmen wollte. Annette Seemann aus Weimar hatte die Übersetzung aus dem Französischen für diese zweisprachige Ausgabe übernommen, sie las mit Wulf Kirsten. Beide zeichneten als Herausgeber.
Ich überspringe einige Jahre und gelange in das Jahr 2019, als uns die Pandemie zusetzte, die Kirsten Pandämonie benannte. Wie erwähnt, gefiel der „Grüne Junipfad“ Kirsten sehr, wenn er in Limlingerode war. Nun erlebte er zu seinem 85. Geburtstag die Freude, dass die Gemeinde Klipphausen bei Meißen, wo er herstammte, gemeinsam mit dem Thüringer Literaturrat e. V. aus Weimar einen ihn ehrenden Pfad entwickelt hatten: „Sieben Sätze über meine Dörfer. Eine literarische Wanderung mit dem Dichter Wulf Kirsten.“ Er schickte uns einen Flyer mit mehreren Fotos als Informationsquelle. Auf Tafeln wird er mit mehreren Gedichten vorgestellt, die man laut lesen sollte, denn so vereinen sich auf wundersame Art Landschaftsraum und Dichtkunst.

Es wurde erwähnt, dass Kirsten mit einigen Künstlern bekannt war, so mit dem bereits verstorbenen Philip Oeser (Helmut Müller) aus Nordhausen, auch mit der Grafikerin Susann Theumer aus Höhnstedt. Diese stellte mehrfach in Limlingerode aus, auch im „Dramajahr“ 2020. Sie zeigte grafische Blätter in der HausART Nr. 2/2020, inspiriert von Gedichten Wulf Kirstens, verfasst in einem halben Jahrhundert. Dichter und Künstlerin kennen sich seit 2006, unternahmen Wanderungen, waren auf Spurensuche. Im Verlag des Thomas Reche war zum 85. Geburtstag des Literaten der Band „flurgänger“ in einer Auflage von 300 Exemplaren erschienen. Die dafür geschaffenen Theumer-Blätter hingen an den Wänden in der Langen Reihe 11 in Limlingerode. Kirsten musste in Weimar bleiben, die Vereinsmitglieder lasen mit seinem Einverständnis aus dem bibliophilen Band seine Verse. Seine berühmten Wortprägungen erklangen wie: „es distelt – als ich wallraffte im feldbau – das einzigeigene ich – querweltein von dorf zu dorf - mistelbälle schmarotzen im sperrigen geäst.“ Danke, dass wir ihn in persona und in seinen Büchern kennenlernen durften!
Heidelore Kneffel, im Namen der Mitglieder des Fördervereins „Dichterstätte Sarah Kirsch“
Autor: red

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