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Zeitzeugengespräch

Das Kinder-KZ der DDR

Dienstag, 26. Januar 2016, 14:40 Uhr
Erziehung, das hieß in der DDR aus Sicht der Parteiideologen die "sozialistischen Persönlichkeit" schaffen. Wie weit man dabei ging, das erfuhren tausende Kinder und Jugendliche in den "Jugendwerkhöfen" am eigenen Leib. Heute ist das alles weit weg, gerade für die Nachgeborenen. Es sei denn man spricht darüber. So heute geschehen in der Nordhäuser Bibliothek...

Ziel: Umerziehung  - Sonderausstellung in der Nordhäuser Biblitothek (Foto: Angelo Glashagel) Ziel: Umerziehung - Sonderausstellung in der Nordhäuser Biblitothek (Foto: Angelo Glashagel)

Die DDR, das war ein Staat zum weglaufen, erzählte Alexander Müller in der Bibliothek heute den Schülerinnen und Schülern der Käthe-Kollwitz Regelschule. Und weil die Menschen wegliefen, kam die Mauer. Es ist Geschichte, die in Büchern steht: Mauerbau, Biermannausweisung, Petitionen, Repression. Mit gerade mal elf Jahren wurde Alexander Müller vom Sog dieser Ereignisse hinfort gerissen. Er war auf dem Weg zur Schule, als ihn zwei Männer "einsammelten", von der Straße weg wurde er direkt in den Jugendwerkhof bei Annaberg gebracht, drei Stunden weg von zu daheim.

Acht Jahre verbringt Müller im sozialistischen Erziehungssystem, weil seine Mutter, einst freischaffende Künstlerin, den Mund nicht halten wollte und im Betrieb für Unruhe gesorgt hatte. Bei Annaberg leben er und die anderen Kinder völlig isoliert, sollen zu "sozialistischen Persönlichkeiten" getrimmt werden, mit allen Mitteln. "Mit dem normalen Leben war Schluss", erzählt Müller, der Alltag bekam militärischen Charakter. Ruhe - Ordnung - Sauberkeit. Um jeden Preis.

Die Haare kommen ab, privaten Besitz gibt es nicht mehr, selbst Fotos der Familie werden eingezogen und können nur gegen Erlaubnis betrachtet werden. Die "Erzieher" sind jederzeit präsent, selbst auf dem Gemeinschaftsklo. Die Kleidung war auch für DDR Verhältnisse auf unterstem Niveau, erzählt Müller, "das hatte System, so waren ausgebüchste Kinder für Polizisten und Zuträger einfach zu erkennen".

v.r. Alexander Müller, Kathrin Büchel und Gino Kuhn haben ihre ganz eigenen Wege gefunden mit ihren Erfahrungen umzugehen (Foto: Angelo Glashagel) v.r. Alexander Müller, Kathrin Büchel und Gino Kuhn haben ihre ganz eigenen Wege gefunden mit ihren Erfahrungen umzugehen (Foto: Angelo Glashagel)

Von den Kindern wird absolute Disziplin gefordert, schon bei kleinen Verstößen Einzelner wird häufig die ganze Gruppe bestraft, erzählt Müller. Einzelarrest ist eine beliebte Strafmaßnahme, drei bis zwölf Tage. In der Zelle gibt es nur Holzpritsche und Eimer. Drei mal sei er auch in die Dunkelzelle gekommen, sagt der ehemalige "Torgauer".

Wer versuchte abzuhauen oder sich anderweitig als renitent erwies, der kam in den geschlossenen Jugendwerkhof Torgau. Zweimal ging Alexander Müller hier durch, für mehrere Monate und ist heute einer der wenigen, die von ihren Erlebnissen auch berichten. Rund 4.600 Kinder mussten Torgau durchmachen, in der Öffentlichkeit haben sich danach gerade einmal 500 getraut. Die Erziehung im "Kinder-KZ der DDR" wirkt nach, meint Müller und berichtet lange und ausführlich von Misshandlungen, pädophilen Erziehern, heimlichen Medikamententests für westliche Pharmafirmen, Gewalt und Willkür.

Im Torgauer Arrest etwa praktizierte man die "explosive Methode". Neuankömmlinge mussten erst einmal warten, im geschlossenen Raum und unter Beobachtung. "Als ich nach ein, zwei Stunden gefragt habe, wie es denn nun weitergeht, schlug man mir in den Magen und sagte ich hätte keine Fragen zu stellen", berichtet der Zeitzeuge Müller, die unvermittelte physische Gewalt würde die "sofortige Erziehungsbereitschaft" der Jugendlichen sicher stellen, so das Kalkül der Heimleitung. Frühsport, Stimme der DDR hören, Arbeit, noch mehr Sport, putzen, immer wieder putzen, Zeitung lesen und ja nichts vergessen, sonst drohen weitere Repressalien - so sieht der Torgauer Alltag aus.

Wehren konnten sich Müller und seine Mutter nicht, und darin zeige sich der "Unrechtsstaat" DDR", meinte Müller. "Wir waren chancenlos, das war ein reiner verwaltungstechnischer Akt. Was die Behörde anordnete wurde ausgeführt, da gab es keine prüfende Instanz. Beschwerden konnten zwar pro forma eingelegt werden, wurden aber ignoriert."

Hörten gebannt zu - die Schülerinnen und Schüler der Käthe Kollwitz Regelschule (Foto: Angelo Glashagel) Hörten gebannt zu - die Schülerinnen und Schüler der Käthe Kollwitz Regelschule (Foto: Angelo Glashagel) Insgesamt durchlaufen eine halbe Million Kinder die staatlichen Heime und Einrichtungen, manche haben es nicht ganz so schlecht wie andere. Torgau war die letzte Instanz. Die Einweisung erfolgte auf Antrag des Heimleiters eines Spezialheims direkt beim Ministerium für Volksbildung. Kein einziger Jugendlicher kam aufgrund eines Gerichtsbeschlusses nach Torgau. Im Grunde, meint Müller, habe man mit den Kindern tun und lassen können was man wollte.

Mit seiner Einschätzung steht er nicht alleine da. Auch Kathrin Büchel und Gino Kuhn sitzen im Podium, überlassen das erzählen aber lieber Alexander Müller. Sie haben andere Wege gefunden mit ihren Erfahrungen umzugehen. Büchel verbrachte vier Jahre in Torgau, Kuhn war mit 19 Jahren politischer Gefangener der DDR. Beide haben sich ihren Erlebnissen über die Kunst genähert.

Im Rahmen der Sonderausstellung "Ziel: Umerziehung" von der Gedenkstätte in Torgau konzipiert wurde und sich ausführlich mit dem sozialistischen Erziehungssystem befasst, werden ihre Arbeiten ab heute in der Nordhäuser Bibliothek zu sehen sein.
Angelo Glashagel
Autor: red

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