eic kyf msh nnz uhz tv nt
Do, 15:30 Uhr
21.09.2017
Antisemitismus in der europäischen Perspektive

Europa gegen die Juden

Der Holocaust kam nicht plötzlich über Europa, der Antisemitismus der Morderne ebnete den Verbrechen der Nazis den Weg und begünstigte die Kollaboration bei der Verfolgung, Deportation und letztlich der Vernichtung der europäischen Juden. Historiker Götz Aly hat sich mit der Entwicklung befasst, die schließlich in der "Endlösung" gipfelte. Sein neues Buch stellte er gestern in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora vor...

Autor und Historiker Götz Aly zu Besuch in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (Foto: Angelo Glashagel) Autor und Historiker Götz Aly zu Besuch in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (Foto: Angelo Glashagel)

Wie kann es sein das die Nazis bis zum Ende des zweiten Weltkrieges einen Großteil der europäischen Juden ermorden konnten? Wo die Wurzeln des Holocausts liegen und wie sie sich entwickelt haben, das betrachtet Historiker Götz Aly in seinem neuen Buch "Europa gegen die Juden - 1880 bis 1945" nicht aus der rein deutschen, sondern aus einer europäischen Perspektive, die ihr Narrativ von Litauen bis Frankreich spannen kann.

Anzeige symplr
Aly zeichnet gesellschaftliche Entwicklungen nach, wie sie in ähnlicher Ausprägung in fast allen europäischen Ländern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stattgefunden haben. Es sei nicht so sehr der "alte" Antisemitismus des Mittelalters und der frühen Neuzeit, der letztlich in die Katastrophe geführt habe, mit dem Beginn der industriellen Moderne habe sich auch ein neuer Antisemitismus entwickelt.

Auf der einen Seite sieht Aly die "christliche Mehrheitsbevölkerung" der einzelnen Länder. In der Frühphase des aufkommenden Nationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die noch größtenteils ländlich geprägt, die Bildungsrate ist nicht sonderlich hoch, die Schulpflicht existiert zwar, wird aber selbst in Preußen nicht rigoros umgesetzt. Die Klassen waren groß, der Lehrerberuf ein Ausweg für gescheiterte Existenzen. Und auch die Weltgewandheit der Preußen war kaum existent, gerade einmal 4% der Bevölkerung hätten einen Pass besessen und das Ausland besucht, erklärte Autor Götz Aly gestern Abend.

Autor und Historiker Götz Aly zu Besuch in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (Foto: Angelo Glashagel) Autor und Historiker Götz Aly zu Besuch in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (Foto: Angelo Glashagel)

Ganz anders die Juden. Von jeher eher urban geprägt und durch Kultur und Religion an Bücher und intellektuelle Auseinandersetzung von Kindesbeinen an gewöhnt, hätten diese im Schnitt einen höheren allgemeinen Bildungsgrad, höhere Lebenserwartung und auch mehr Hochschulabschlüsse gehabt als die Masse der Bevölkerung. Hinzu komme die Erfahrung von Verfolgung und Enteignung, meinte Aly, Bildung ist letztlich ein immaterielles Gut, mit dem sich auch in der Fremde leben lässt.

Der Historiker weiß seine Argumente zu belegen, der preußischen Statistik sei es gedankt. So hätten bei einem Bevölkerungsanteil von rund einem Prozent Juden 10% der Universitätsabgänger ausgemacht. Aly bringt viele dieser Beispiele, aus den Archiven des gesamten Kontinents zusammengetragen.

Mit dem erstarken der nationalen Bewegung auf dem gesamten Kontinent und der Industrialisierung werden breite Bevölkerungsgeschichten angehalten "nachzuziehen". In Litauen etwa seien es vor allem katholisch-nationale Kräfte gewesen, Priester und Prediger, welche die Masse der Menschen angehalten habe ihr bäuerliches Los hinter sich zu lassen.

Autor und Historiker Götz Aly zu Besuch in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (Foto: Angelo Glashagel) Autor und Historiker Götz Aly zu Besuch in der Gedenkstätte Mittelbau-Dora (Foto: Angelo Glashagel)

Dort wo das aufstrebende Bildungsbürgertum nun hin will, sind aber vielfach schon andere. Eben die Juden. Bei dem was folgt sind Pogrome nicht unbedingt der erste Schritt. Die gibt es, zum Teil in verheerender Form etwa in Russland zu Beginn der 1880er Jahre, sie würden aber vor allem dann stattfinden, wenn die staatliche Ordnung schwach sei oder die Pogrome aktiv von staatlicher Seite begünstigt würden.

Aly zeichnet andere Wege auf. Flankiert von Staat und Gesetz werden die Juden über die Jahrzehnte zunehmend an den Rand gedrängt. Auf die Bildungsoffensive unter der "Mehrheitsbevölkerung" folgen Gesetze die etwa den Zugang zu Gymnasien und Universitäten für Juden stark einschränken. Oft habe man dabei ein Quotenargument verwendet, das dem heutigen Zuhörer nicht Unbekannt sei, im Namen der nationalen Gerechtigkeit wurden Juden benachteiligt.

Bildung setzt sich irgendwann auch in sozialen Aufstieg um. Auch hier besetzen Juden vielfach Positionen als Juristen, Ärzte oder Unternehmer. Der nächste Schritt, und auch diesen kann Aly anhand zahlreicher Beispielen aus Ungarn, Polen, Russland, Litauen, Rumänien und anderen Ländern nachzeichnen, folgen Berufseinschränkungen und -verbote für Juden.

"Das 20. Jahrhundert war eine Zeit des massiven sozialen Aufstiegs. In einer Zeit, in der alle aufsteigen wollen, schafft das Spannungen und Neid", sagt Aly am Abend. Die priveligierte Behandlung zentraler Gruppen gegenüber Minderheiten könne man in den Jahren zwischen den Kriegen überall beobachten. Der Historiker sieht in den Entwicklungen auch einen Spiegel für eigene Minderwertigkeitskomplexe der christlichen Mehrheitsbevölkerungen. Wer als Individuum nicht so schlau und erfolgreich ist wie der jüdische Nachbar, der flüchte sich in ein Gruppenbild, das Sprache, Kultur und Geschichte des Kollektivs besonders hervorhebe. "Ich mag selber kein Goethe sein, aber der gehörte zu "uns". Wir sind so tolle Leute mit so einer herrlichen Geschichte - Sichtweisen wie diese finden Sie damals quer durch den europäischen Garten", erklärte der Historiker.

Den nächsten Schritt der Entwicklung machen schließlich die Deutschen unter der Naziherrschaft. Keine singulären Pogrome sondern die systematische Vernichtung der europäischen Juden ist das Ziel. Mit dem Krieg tragen die Deutschen ihren Judenhass auch in andere Länder. "Der Krieg reduziert die moralischen Maßstäbe in einer Art und Weise wie wir sie uns heute nur noch schwer vorstellen können", sagt Aly und kehrt nach Litauen zurück. 200.000 Juden werden hier während der deutschen Besatzung ermordet. Mit der Hilfe junger Männer aus Litauen. Aly berichtet von Erschießungen bei denen nur sechs bis sieben Deutsche anwesend gewsesen seien, und 60 bis 80 Litauer. Bei den Deportationen aus Ungarn in die Vernichtungslager hätten die Juden bis zur Grenze keinen Deutschen gesehen, die Verfolgung organisierten die Ungarn selber.

Das Eigentum der Ermordeten und Deportierten gehe in der Folge so gut wie immer an nationale Organe der besetzten Gebiete über, die wiederrum den Auftrag hatten es unter der verbliebenen Bevölkerung zu verteilen, etwa durch Autkionen. Arisiert wird in Deutschland, in Litauen "litauisiert". Hunderttausende Europäer hätten vom einfachen Topf bis zu kompletten Unternehmen einstigen jüdischen Besitz übernommen, erzählt Aly, mancher sei dadurch auch sozial aufgestiegen. Diese "völkische Umverteilungspolitik" nutzten die Nazis auch als Bindemittel zwischen Besatzungsmacht und Einheimischen. Die Nazis hätten die Menschen über materielle Anreize "in den Strudel des Bösen" gezogen, erklärte der Historiker. Gerade im Krieg sei das effektiv gewesen. Im schwer zerbombten Hamburg etwa haben sich die Auktionslisten jener Tage erhalten, berichtet Aly, 400.000 Menschen nahmen Teil.

Der latente Antisemitismus erlaubt es den Nazis auch, die Massendeportationen in das KZ-System europaweit zu organisieren. Allerdings mit massiven regionalen Unterschieden, wie Aly erläuterte. Im flämischen Teil Belgiens etwa konnten die Nazis mit Hilfe der örtlichen Behörden rund 2/3 aller Juden deportieren. In der Region um Brüssel spielten die Behörden nicht mit, auf sich allein gestellt können die Nationalsozialisten hier nur rund einem Drittel der Juden habhaft werden. Von ähnlichen Beispielen weiß Aly aus Griechenland, Frankreich, Italien und sogar Ungarn zu berichten.

Es gehe ihm nicht um eine Schuldverschiebung, sagte Aly, die Deutschen brachten den Krieg und mit dem Krieg den Holocaust. Mit der eigenen Verantwortung gehe man in den Ländern Europas heute ganz unterschiedlich um. In Frankreich etwa bekenne man sich seit den 1990er Jahren offen zur Kollaboration auch mit Hinblick auf den Holocaust. Wobei es hier, wie anderswo in Europa auch, in jüngster Zeit wieder Kräfte gibt, die das Rad der Geschichtsaufarbeitung gerne wieder zurückdrehen würden. "Der Holocaust ist der Tiefpunkt der deutschen Geschichte. Er ist aber auch ein Tiefpunkt der europäischen Geschichte", sagte Aly.

Ein Tiefpunkt der sich wenn möglich nicht wiederholen sollte. Jede Generation entdeckt ihre Geschichte für sich neu, stellt ihre eigenen Fragen. Die nach dem "Warum" treibt Götz Aly bis heute um und er wird hoffentlich nicht der letzte sein, der sie stellt. Nicht hierzulande und nicht anderswo.
Angelo Glashagel
Autor: red

Kommentare

Bisher gibt es keine Kommentare.

Kommentare sind zu diesem Artikel nicht möglich.
Es gibt kein Recht auf Veröffentlichung.
Beachten Sie, dass die Redaktion unpassende, inhaltlose oder beleidigende Kommentare entfernen kann und wird.
Anzeige symplr
Anzeige symplr